„Lass uns fliegen“, ein einnehmender Titel, der eigentlich überhaupt nichts verrät. Worum mag es gehen? Schier tausend mögliche Geschichten kämen mir dazu in den Sinn, von Fantasy bis Realityroman. Zugegeben, das reichlich bunte Cover, das mich an die Sicht auf ein Lichtermeer während einer rasenden Autobahnfahrt erinnert, legt die Vermutung nahe, dass auf die eine oder andere Art wohl Drogen involviert sein werden.
Diese Vermutung ist auch richtig. Aber was man mit Katrin Bongards jüngstem Jugendbuch da in der Hand hat, das sollte man definitiv nicht unterschätzen.
Tatsächlich lohnt es sich, den gerade mal 234 Seiten leichten Roman mit Bedacht zu lesen, aufmerksam, nicht nur „mal so nebenher“, sondern tiefer in die Geschichte einzutauchen, durchaus mal das Buch beiseitelegen, und die Informationen in aller Ruhe zu verarbeiten.
Die Autorin manövriert sich mit ihrem Zwei-Protagonisten-Konzept auf einer schmalen Fahrbahn, nicht zuletzt auch dadurch, dass beide Hauptcharaktere, Paulina und Vincent, jeweils nicht unerhebliche Problempäckchen mit sich tragen. Ob man es nun für ge- oder misslungen hält, das soll jeder selbst entscheiden dürfen, ich für meinen Teil möchte „Lass uns fliegen“ allerdings weiterempfehlen, nicht nur an Jugendlich, auch an Eltern und Lehrkräfte, weil hier jeder etwas fürs reale Leben mitnehmen kann.
Wie bereits erwähnt, der Roman verfolgt das Leben zweier Teenager, die im Grunde nichts miteinander am Hut haben, außer dass sie die gleiche Schule besuchen.
Paulina tanzt Ballett, ist gut in der Schule, sie hat ihre feste Clique, ist cool, hübsch, unnahbar. Mit ihrem Freund Jan ein Traumpaar, ihre Freundinnen nennen sie in Kombi „Barbie & Ken“.
Vincent dagegen, der Skater, der Kiffer, Schule ist nicht sein Ding, aber Lesen tut er gerne, schreibt Gedichte – Rap, wie er es nennt. Er hat seinen besten Freund Hendrik, ebenfalls Skater und Kiffer, letzteres wesentlich extremer als Vincent.
Wie begegnen sich nun also zwei so verschiedene Charaktere? Ja, in der Schule, das ist klar, aber wie kommen sie dazu, sich so zu verstricken, dass eine gemeinsame Geschichte daraus entsteht?
Probleme. Naheliegend, ohne Probleme würde sich ein Buch schwer erzählen lassen, aber die Probleme, die Katrin Bongard ihren Protagonisten zumutet, haben es in sich. Vielleicht, weil sie einem extrem erscheinen, vielleicht, weil sie bei zweitem Blick doch jeden betreffen könnten.
Das Problem, das Paulina mit sich trägt, die Last, ist der Tod ihrer Schwester Bea. Lange hat sie in der Schule gefehlt, nach dem Unfall, den Bea nicht überlebt hat, und jetzt ist nichts mehr, wie es war. Nicht daheim, nicht mit Jan, nicht in der Schule. Als die Schule für das nahende 75 jährige Jubiläum AGs einrichtet, in denen sich die Schüler beteiligen und Noten aufbessern können, beschließt sie, sich in der Schreibwerkstatt zu verkriechen, wo doch ihre ganze Clique in die Theater AG geht. Auf der Bühne stehen, das ist nichts mehr für Paulina, zumindest vorerst.
Vincents Laster ist die Alkoholsucht seines Vaters, die Ohnmacht, mit der er sie miterleben muss. Da er auch in die Schreibwerkstatt geht, beginnt nun ein hin und her zwischen den beiden, aus anfänglichem Kontakt ein vorsichtiges Sich-Öffnen, gefolgt von Sich-Zurückziehen, ein Tanz, der beide verunsichert, das Chaos in ihren Leben an die Oberfläche zieht.
Perfekt wird dieses Chaos mit Hendriks Drogenabsturz, der ihn eine Weile auf eine psychiatrische Abteilung befördert. Denn jetzt hat Vincent niemanden mehr zum reden und Paulina beginnt, die Schatten die Vincent Tag für Tag verfolgen, zu sehen. Und ganz nebenbei entsteht da etwas zwischen ihnen, etwas, das vielleicht Liebe ist.
Mich hat „Lass uns fliegen“ positiv beschäftigt, nicht nur, weil es auch nützliche Tipps zum Schreiben enthält, sondern vor allem, weil es von Freundschaft handelt, von Vertrauen, davon, Mut zu haben, sich anderen zu öffnen. Vom Mut, sich seinen Problemen zu stellen.
*Erschienen bei Oetinger*
Autorin / Autor: cheshirekitty - Stand: 17. Mai 2016