Latein lernen nur fürs Image?
Soll man heute noch Latein lernen? Lernt man dadurch logisches Denken? Oder ist das Zeitverschwendung? Interview mit Professor Jürgen Gerhards, der eine interessante neue Studie dazu gemacht hat
Sollte man Latein lernen, um seine Karrierechancen zu steigern? Die neue Studie mit dem Titel "Des Kaisers neue Kleider - Fiktion und Wirklichkeit des Nutzen von Lateinkenntnissen" legt nahe, seine Zeit besser zu nutzen und eher eine lebendige Sprache zu lernen. Wir sprachen mit einem der Autoren der Studie Professor Jürgen Gerhards von der FU Berlin.
Kurze Frage vorab: Haben Sie Latein in der Schule gelernt? Und was hat es Ihnen persönlich gebracht?
Ich hatte sieben Jahre Latein in der Schule und habe gerne Latein gelernt. Die Systematik der Sprache kommt meiner Mentalität entgegen. Aber diese persönliche Erfahrung ist kein Argument, um zu begründen, warum man Latein lernen sollte.
*Sie haben ja eine Studie zum Thema Nutzen von Lateinkenntnissen durchgeführt. Was war die Fragestellung und welche zentralen Ergebnisse sind dabei herausgekommen?*
An sich lernt man ja eine Fremdsprache, um sich mit anderen Menschen in der Welt verständigen zu können; gerade in einer globalisierten Welt werden Fremdsprachen immer bedeutsamer. Für Latein gilt nun, dass es eine nicht mehr gesprochene Sprache ist; insofern macht es erstmal keinen Sinn, Latein zu lernen.
Latein werden aber eine Vielzahl anderer Merkmale zugeschrieben: Wer Latein lernt, schult angeblich sein logisches Denken, erwirbt ein besseres Verständnis von Grammatik und lernt leichter andere Fremdsprachen. Die Forschung zeigt nun, dass dies nicht stimmt. Wenn man in der gleichen Zeit, in der man Latein lernt, eine moderne Fremdsprache lernt, dann schult man ebenso gut das analytische Denken und verbessert seine Grammatikkenntnisse. Insofern spricht erstmal nichts dafür, Latein zu lernen.
*Warum empfehlen viele denn immer noch, Latein zu lernen, obwohl niemand diese Sprache spricht?*
Auch wenn man wissenschaftlich nachweisen kann, dass Latein nicht viel bringt, glauben die Menschen aber an den Nutzen von Latein. Wir haben Eltern von Gymnasiasten danach befragt, wie sie Latein im Vergleich zu modernen Sprachen einschätzen: 80 Prozent sagen z.B., dass Latein das logische Denken fördert, den Erwerb anderer Fremdsprachen erleichtert und zu einem besseren Verständnis der Grammatik beiträgt. Deutlich weniger Befragte trauen diese Eigenschaften modernen Fremdsprachen zu. Zudem glauben die Eltern, dass Personen, die Latein gelernt haben, gebildeter sind als Personen, die eine moderne Fremdsprache gelernt haben.
Auch wenn Latein, faktisch nicht viel bringt, glauben die Menschen an den Nutzen von Latein. Es ist wie im Märchen "Des Kaisers neue Kleider": Wenn alle an etwas glauben, dann wird es wahr.
*Welche Auswirkungen hat Latein im Lebenslauf auf die spätere Karriereplanung?*
Der Glaube an den Nutzen von Latein ist mit Vorteilen verbunden. Tim Sawert, ein Mitautor unserer Studie, hat in seiner Doktorarbeit fiktive Bewerbungen an Unternehmen geschickt, die sich nur in einem einzigen Merkmal unterschieden: Ob jemand Latein in der Schule hatte oder nicht. Die, die Latein gelernt hatten, wurden öfter zum Interview eingeladen.
*Ist es nach den Erkenntnissen der Studie also besser, eine "lebendige" Sprache zu lernen? Wenn ja, warum?*
Geht man davon aus, dass es die wichtigste Funktion einer Sprache ist, eine Verständigung mit anderen Menschen zu ermöglichen, dann würde ich immer eine Sprache wählen, die von vielen anderen Menschen gesprochen wird.
*Vielen Dank für das Gepräch*
Was meint ihr? Ist es heutzutage noch sinnvoll, eine tote Sprache zu lernen? Wer von euch lernt Latein?
Autorin / Autor: Redaktion/Professor Jürgen Gerhards - Stand: 19. September 2019