Leon

Von Julia Ziemann, 24 Jahre

Sie hatten wirklich eine Menge von diesen Dingern. Und keins glich dem anderen. Muttermale, Falten, Grübchen, Schlupflider oder einen Ticken zu große Nasen – es gab alles, was man von den Vorbildern aus Fleisch und Blut gewohnt war.
„Alles Einzelstücke, was das Layout angeht“, hatte der Verkäufer gesagt. „Handbemalt. Unverwechselbar. Das wollen die Kunden, verstehen Sie. Kleine Makel und Schwächen, die sie menschlicher aussehen lassen. Natürlich wirkt sich das auf den Preis aus, aber für Sie werde ich sehen, was sich machen lässt.“ Er hatte gezwinkert.
Nun tänzelte er unruhig auf der Stelle, als Erik die Sommersprossen von einer Maschine betrachtete, die einem sechsjährigen Mädchen nachempfunden war.
„Dieses Layout ist besonders beliebt bei Paaren und alten Damen. Sie wissen schon, seit die Regierung die Einzelkindschwelle erlassen hat, stürzt sich alle Welt auf Zweitkinder aus Stahl, Latex und digitalen Daten. Natürlich kriegen Sie hier nur das Beste.“ Der Verkäufer sah auf seine Uhr – ein Ziffernblatt, das durch sein Handgelenk schimmerte.
„Mache ich Umstände?“, fragte Erik, der einen dreijährigen Jungen mit Zahnlücke antippte. Er fühlte sich weich an, und was noch faszinierender war: Unter Eriks Finger bildete sich kurz ein heller Abdruck, ehe das Material wieder die ursprüngliche Hautfarbe annahm.
Der Verkäufer barg die Uhr hinter dem Rücken. „Natürlich nicht. Ich hatte Sie nur falsch eingeschätzt. Normalerweise interessieren sich Kunden in Ihrem Alter für eine andere Abteilung. Besonders, wenn sie alleine herkommen.“ Er hob vielsagend die Brauen.
„Verstehe. Aber ich habe keinerlei Interesse an einer Haushaltsroboterin mit Erotikfunktion oder wie Sie das hier nennen.“
„Wir nennen es eine Multifunktionale Alltagsbegleiterin. Kurzform MAB. Macht Ihnen nebenher die Wäsche.“ Der Verkäufer sah wieder auf seine Uhr. „Wenn Sie nicht Herumdrucksen, weil Sie sich schämen, sich in die Abteilung für MABs zu begeben, dann sagen Sie mir bitte, was genau Sie suchen, Herr Staub. Eine klare Angabe ist die Grundlage für ein effizientes Verkaufsgespräch.“
„Wer sagt, dass ich etwas Bestimmtes suche? Vielleicht will ich mich nur mal umsehen. In meiner Jugend sind die Leute in Geschäfte gegangen, um sich zum Kauf inspirieren zu lassen.“
Der Verkäufer ließ von seiner Uhr ab und runzelte die Stirn. „Aber mein Lieber. Dazu können Sie doch unseren virtuellen Testing-Space nutzen, anstatt meine Zeit-“
„Sie haben Recht. Das hier ist reine Zeitverschwendung.“ Erik befiel der Drang, einem der pickeligen Jugendlichen ein paar Schritte weiter gegen die Rippen zu boxen, doch er brachte es nicht über sich – sie sahen einfach zu real aus. Er seufzte. „Alles nur wegen Rosa.“
„Rosa?“ Der Verkäufer blickte ihn misstrauisch an und trüge Erik einen dieser Datenchips im Handgelenk, würde er nun wohl seine Herzfrequenz und die Menge des von ihm ausgestoßenen Adrenalins messen und sichergehen, dass keine Handgreiflichkeiten seitens Erik zu erwarten waren. Doch Erik war einer der letzten Streuner. Er hatte sich kein künstliches Zeug unter die Haut pflanzen lassen, das ihn auf Schritt und Tritt analysierte. Er war frei. Und trotzdem stand er ausgerechnet hier.
„Bitte helfen Sie mir, dieses Verkaufsgespräch effizienter zu gestalten“, sagte der Verkäufer. Mit seinem makellosen Anzug und den strahlenden Zähnen sah er mehr aus wie ein Roboter als die, die er verkaufte. „Welche Funktionen soll das Produkt erfüllen? Präferieren Sie ein bestimmtes Layout? Soll die Speicherkapazität der künstlich-neuronalen Verbindungen hoch oder niedrig sein, sprich: Wollen Sie einen Dummkopf oder einen Genius? Und was ist mit einer Erweiterung des Empathiemoduls? Das ist äußerst empfehlenswert.“ Er tippte auf dem Touchscreen herum, der seit Eriks Ankunft neben ihm herschwebte. „Es sei denn, Sie planen, die KI für Tätigkeiten im Mastbetrieb oder bei Waffenanwendungen einzusetzen. Da ist Empathie doch eher fehl am Platz.“ Er lachte.
Erik seufzte. „Rosa meinte, Gesellschaft würde mir guttun.“ Er blickte sich zum Ausgang um. „Aber vielleicht sollte ich einfach wieder...“
„Verstehe, verstehe. Sie suchen ein Ersatzprodukt, ja? Wessen Ersatz ist gefordert? Der Ihrer Frau? Ihres Sohnes? Eines Enkelkindes, nahen Bekannten, Tieres?“ Seine Miene erhellte sich. „Wir haben brandneue Modelle in Sachen Hunde-Lay-Out. Sie werden begeistert sein. Es gibt Jagd-, Herdenschutz- und-“
„Keinen Hund“, brummte Erik. Dann schluckte er, denn Heiserkeit klammerte sich in seinem Hals fest. „Es geht um einen Jungen.“
„Na also.“ Der Verkäufer klopfte Erik auf die Schulter. „Unser Gespräch hat sich soeben in seiner Effektivität vervielfacht. Sie wünschen also eine EBI, eine Enkel-Begleiterintelligenz.“
„Eher eine Art... Sohn. Falls man das so nennen kann.“
„Vortrefflich.“ Der Verkäufer strahlte. „Welche Funktionen soll ihr Sohn“, er formte Gänsefüßchen in der Luft, „denn erfüllen?“
„Na ja. Ich wohne eher abgelegen. Eher... altmodisch, gelinde gesagt. Die KI könnte mir beim Bewirtschaften des Ackers helfen und sich um die Tiere kümmern. Und sie sollte sich gut bewegen können, im Wald sind die Wege oft holprig.“
Der Verkäufer hielt in seinen digitalen Notizen inne. „Acker? Tiere? Wald?“ Er musterte Eriks Handgelenk, wie schon mehrmals an diesem Tag. „Ich weiß nicht, ob unsere KIs dazu angelegt sind. Sehen Sie, das Latex ist nicht besonders robust, andernfalls käme es zu deutlichen Einbußen bei der Nachahmung des menschlichen Hautgefühls und-“
„Sie können mir nicht liefern, was ich suche?“
Der Verkäufer war kein Roboter, das bewiesen die Schweißperlen, die sich nun auf seiner Stirn bildeten. „Das habe ich nicht gesagt!“
„Gut.“ Erik lächelte grimmig. „Dann liefern Sie mir meinen Jungen. Das Aussehen ist unwichtig. Nur seine Augen. Machen Sie sie braun.“
„Nun, es gibt verschiedene Nuancen, was die Augenfarbe angeht-“
„Karamellbraun. Und denken Sie an diese Erweiterung des Empathie-Moduls. Er soll so menschlich sein wie möglich.“
„Ja, nun. Das Empathiemodul erweitern wir allerdings auf eigene Gefahr“, murmelte der Verkäufer. „Es ist selbstaktualisierend und wird von den die KI umgebenden Daten beeinflusst. Je nachdem, welche emotionalen Daten sie erreichen, wird sie diese auch ins eigene System einspeisen, verstehen Sie.“
„Sie meinen, wenn ich der KI jeden Tag sage, wie übel die Welt ist, besorgt sie sich irgendwann ein Maschinengewehr und läuft Amok?“
  „Bevor ein solcher Fall eintritt, wird die KI selbstredend extern abgeschaltet. Allerdings müssten Sie sich dann einem Gerichtsverfahren stellen.“
„Ist ein derartiger Fall etwa schon einmal eingetreten?“
Der Verkäufer presste die Lippen aufeinander und lächelte.
„Und wann ist der Junge lieferbar?“
„Er sollte in etwa zwei Tagen vor Ihrer Haustür stehen, Herr Staub. Für Schäden, die bei der Anreise entstehen, kommen wir allerdings nicht auf. Möchten Sie eine entsprechende Reiseversicherung abschließen?“
„Ich könnte ihn mit meinem alten Viehtransporter abholen.“
„Na, da empfehle ich Ihnen doch eher die Versicherung.“
„Und was braucht er? Also. Wie hält man so eine Maschine?“
„Unsere KIs brauchen eine wöchentliche Stromeinspeisung von etwa achtzehn Stunden. Sie erkennen eigenständig, wann die beste Zeit zum Aufladen ist und schließen sich selbst an.“ Er strich erneut auf dem Touchscreen herum. „Unter welchem Namen dürfen wir das System Ihrer KI in Betrieb nehmen?“
„Der Name?“ Erik schluckte. „Nennen Sie ihn...“ Schon, an den Namen zu denken, schmerzte ihn. Aber es war ein guter Schmerz. Er machte etwas greifbar, was Erik so lange nicht mehr zu greifen bekommen hatte. „...Leon.“
„Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß mit Ihrem Produkt, Herr Staub. Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns demnächst doch noch in der Abteilung für Multifunktionelle Alltagsbegleiterinnen mit Erotikmodul wieder.“ Er zwinkerte. „Beim Verlassen des Shops werden die Kosten automatisch von ihrem Konto abgeho- ...ach nein.“ Erneut betrachtete er Eriks Handgelenk. „Barzahlung ist unüblich, aber nicht unmöglich. Bitte wenden Sie sich an eine Mitarbeiterin bei der Information. Wir kriegen das schon irgendwie hin.“ Er drückte Eriks Schulter. Dann ging er mit langen Schritten davon und stürzte sich auf seine nächsten Opfer, ein junges Ehepaar mit Baby, das bereits testete, wie sich Umarmungen an dem sommersprossigen kleinen Mädchen anfühlten, das sie sich zuvor im Testing-Space ausgesucht haben mussten.

Das Klopfen war zart und rhythmisch. Erik schreckte aus seinem Dösen auf und scheuchte den Kater von seinen Beinen, ehe er zur Tür stapfte. Seit er das Geschäft mit KIs verlassen hatte, zweifelte er an seiner Kaufentscheidung, und kurz dachte er darüber nach, die Tür einfach nie wieder zu öffnen. Andererseits hatte er Geld in diese Maschine gesteckt, wenigstens bei der Arbeit auf dem Acker sollte er sie also einsetzen. Er zog die Tür auf und sah in ein großes Paar karamellbrauner Augen.
„Hallo“, sagte Erik.
„Hallo, Papa“, sagte der Junge und trat von einem Bein aufs andere, während er sich scheinbar bemühte, sich nicht an Erik vorbeizudrängeln und sein neues Heim zu begutachten.
„Papa“, echote Erik. „Hm. Also. Wie war die Reise?“
„Ich war in guter Gesellschaft. Allerdings ist meine Außenschicht an den Zehen abgeschürft. Das liegt wohl daran, dass die Stiefel, die zur Vervollständigung meines Layouts angefertigt wurden, ein Novum sind. Die Kunden wünschen sich normalerweise leichtes, ästhetisches Schuhwerk. Aber wir schätzen den robusten Look, stimmt´s, Papa?“
Erik starrte den Jungen mit seinen riesigen braunen Augen an. Er reichte ihm etwa bis zu den Rippen. Was hatten die Geier im Verkauf sich nur gedacht? Wie sollte der Erik bei der Arbeit helfen? „Wie alt bist du laut deines Layouts, hm?“
„Ich bin sieben Jahre und neun Monate alt, Papa.“
„Dafür ist deine Ausdrucksweise aber gewählt.“
„Möchtest du, dass ich mein Sprachmodul aktualisiere, Papa?“
„Schon gut. Aber hör auf, mich ständig Papa zu nennen.“
„Vater?“
„Nein.“
„Vati? Papi? Dad? Daddy?“
„Bitte nicht. Ich muss mich erst an diese Situation gewöhnen.“
„Na gut.“ Der Junge beugte sich zur Seite, um das Haus besser einsehen zu können. „Rustikal“, stellte er fest. „Das ist gut. Mein System ist darauf programmiert, beim Anblick rustikaler Einrichtungen als positiv bewertete künstlich-neuronale Signale zu erzeugen.“
„Auf den Mund gefallen bist du jedenfalls nicht.“ Erik trat zur Seite. „Dann komm mal rein.“
Der Junge machte einen kleinen Hüpfer, ehe er an Erik vorbei huschte und sich mit geöffnetem Mund umsah. Er erreichte den Kaminsims, auf dem mehrere gerahmte Fotos standen, nahm eins herunter und fragte: „Ist das Mama?“
„Für eine KI bist du auch ganz schön neugierig.“
Der Junge nahm ein anderes Bild, auf dem die gleiche Frau an Eriks Seite zu sehen war. „Wo ist Mama?“ Er sah sich um. „Kann ich ihr hallo sagen?“
„Nein. Und sie ist auch nicht deine Mutter. Ich habe dich allein gekauft.“
„Achso.“ Der Junge ließ ein wenig die Schultern hängen, als er das Foto zurückstellte. Dann entdeckte er den Kater. Ohne Vorwarnung warf er seine Arme hoch, kreischte und schnappte das Tier, das vor Überraschung vergaß, wegzurennen. „Wie süüß!“, rief der Junge und presste ihn an sich. Dabei stolperte er über seine eigenen Füße und krachte gegen den Wohnzimmertisch, auf dem eine Vase ins Wackeln geriet.
Erik beeilte sich, sie vor dem Fall zu bewahren, und runzelte die Stirn. War bei der Programmierung dieser KI etwas falsch gelaufen? Oder gab es andere Gründe für dieses seltsame Verhalten? „Diese Gesellschaft, die du auf deiner Reise hattest“, sagte er alarmiert. „Wer genau war das?“
„Oh, da gab es mehrere.“ Der Junge rappelte sich hoch und wuschelte durch das Fell der Katze, die hilflos miaute. „Erst eine Gruppe von Kindergartenkindern, dann ein Priester, der sich zu einem Wanderjahr entschlossen hat und dann war da noch die alte Dame mit den Katzen, auf deren Elektrofahrrad ich ein paar Meilen mitfahren durfte. Die Reise war recht lang.“
„Offensichtlich.“ Erik seufzte. Warum hatte er nur die Erweiterung des Empathiemoduls verlangt? „Na dann. Versuchen wir uns an der Arbeit auf dem Acker.“

Nach mehreren Anläufen, bei denen der Junge erfolglos versuchte, die Kuh mit einem Pflug über den Acker zu treiben, blieb Erik stehen und schüttelte den Kopf. „Das funktioniert so nicht.“
Der Junge sah auf. „Aber ich habe mich bemüht, wirklich.“ Die karamellbraunen Augen verschwammen und dicke, perlenartige Tränen lösten sich daraus und kullerten seine Wangen hinunter. „Aber es ist so anstrengend und ich würde viel lieber bei Moses Ei-ei machen und über Gottes Weg für mich nachdenken.“
„Moses?“
„So habe ich den Kater getauft. Weißt du, wir sollten uns noch mehr Katzen anschaffen. Aber das kann noch ein wenig warten. Wenn du möchtest, versuche ich es nochmal. Und dann nochmal. Und-“
„Schon gut.“ Erik wich dem künstlichen Blick der KI aus. „Entschuldige mich. Ich muss ein Telefonat führen.“ Er stapfte ins Haus, schloss die Tür hinter sich und wählte eine Nummer.
Eine nichtssagende Melodie erklang. Dann ein Klicken und eine Männerstimme sagte: „Guten Tag, ~ kursiv~KI-Lieferservices~ hier. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Hier ist Erik Staub. Ich habe eine KI bei Ihnen gekauft. Aber ich denke, sie entspricht nicht ganz meinen Vorstellungen.“
„Was genau stört Sie an unserem Produkt, Herr Staub?“
„Na ja. Die KI ist neugierig, lässt sich ständig ablenken und ist ziemlich ungeschickt. Und obwohl sie Gefühle nur reproduziert, wirkt sie verdammt rührselig. Und sie hat ein Faible für Katzen und Kindergartensprache. Ich bin nicht sicher, wie ich mich in ihrer Nähe verhalten soll. Sie gibt mir das Gefühl...“ Erik dachte nach. „In ihrer Nähe fühle ich mich so... Irgendwie... aufgeregt.“
„Unsere KI versetzt Sie in Angstzustände?“
„Nein, nein, das nicht. Sie stresst mich. Sehen Sie, wegen ihr bin ich ständig mit dem Gedanken daran beschäftigt, was Leon als Nächstes anstellt. Sehen Sie? Ich nenne die KI bereits bei einem Namen! Dabei ist es nur eine Maschine!“
„Sie empfinden es also als verwerflich, im Umgang mit einer KI Glück und Nähe zu empfinden?“
„Schon.“
„Und welche Emotionen würden Sie bevorzugen?“
„Na ja. Etwas Gewohntes.“
„Spezifisch gesagt?“
Erik kaute auf seiner Unterlippe herum. „Tja... Spezifisch gesagt wären das dann wohl Einsamkeit und Melancholie...“
„Dann wünschen Sie, dass wir Ihre KI so umschreiben, dass sie bei Ihnen einen Zustand der Trauer und der Melancholie hervorruft?“
„Hmmm“, machte Erik. Er drehte sich zur Glastür um und sah zu, wie der Junge von Neuem versuchte, die Kuh voranzutreiben. Er rutschte aus und landete der Länge nach im Matsch. Doch schon im nächsten Moment sprang er wieder auf und versuchte es erneut, wobei er ununterbrochen auf die Kuh einredete. Erik musste lächeln. Er sah zu dem Foto von Rosa hinüber. Dann zu dem von Leon.
Und dann legte er den Hörer auf und lief zur Tür. „Warte!“, rief er dem Jungen zu. „Fürs Erste helfe ich dir!“ Und ganz leise fügte er hinzu: „Leon.“

Autorin / Autor: Julia Ziemann