Lieber Daddy-Long-Legs
von Jean Webster,
Illustration Franz Renger
Übersetzt von Ingo Herzke
Jerusha Abbot ist ein Waisenkind. Sie ist das älteste von allen Waisen im „John Grier Heim“ und ist sich ihrer Perspektivlosigkeit durchaus bewusst. Eines Tages wird ihr jedoch völlig überraschend angeboten, dass sie Literatur studieren kann. Sie soll „eine große Schriftstellerin“ werden. Die einzige Bedingung: Sie soll ihrem Gönner, der lieber anonym bleiben will, regelmäßig Briefe von ihrem Leben an der Universität schreiben. „Lieber Daddy Long Legs“ sammelt diese Briefe und gibt dem Leser so einen wunderbaren Einblick in das Leben und die Entwicklung von Jerusha.
Jerusha, die von nun an Judy genannt werden will, bezaubert bereits nach wenigen Seiten mit ihrer Lebenslust. Manchmal naiv, manchmal beinahe weltfremd, erzählt sie von ihren ersten Tagen an der Universität, den anderen Mädchen, die von Kindesbeinen an Familie und Geld hatten, und ihren Bemühungen so zu scheinen, als wäre sie eine von ihnen.
Es ist ein Buch voller Witz und Fantasie. Die Protagonistin verliert sich so herrlich in den Einzelheiten ihrer Beschreibungen, selbst Nebensächlichkeiten wirken bei ihr charmant.
Ihr großer Vorteil ist, dass sie durch und durch ehrlich zu sich selbst und auch zu ihrem reichen Gönner ist. Sie entwickelt sich, findet Freunde und verbringt herrliche Semesterferien.
Selbst nach einigen Jahren verblendet sie das Geld nicht, das man ihr gibt. Sie bewahrt ihren Stolz und will es immer wieder zurück zahlen. Obwohl ein Treuhänder des Waisenheimes ihr ihr neues Leben ermöglicht, nimmt Judy diesbezüglich kein Blatt vor den Mund und schreibt über ihre eigene Kindheit im Heim und den Unterschied zum neuen Leben.
Sie wird nicht die Marionette ihres Geldgebers, sondern bewahrt ihren starken Willen und ihre Unabhängigkeit.
Der einzige Fehler Judys, der ihr zuckersüßes Wesen nicht nur unterstreicht, ist ihr Einrichtungsgeschmack. Sie beschreibt ihr erstes Zimmer als „eine Symphonie von Braun und Gelb“.
Judy ist somit eine Figur, die uns allen Lebensfreude vermittelt.
Das gesamte Buch sprüht davon über, und bei nur wenigen anderen Büchern kann der Leser so viel Energie und gute Laune auch wirklich aus der Geschichte entnehmen.
Einzig anzumerken bleibt, dass durch die Übersetzung leider leider der großartige Wortwitz des Titels, den Spitznamen, den sich Judy für ihren Gönner ausdenkt, verloren geht. Auch im Buch selbst kommen Übersetzungen englischer Sprichworte vor, sodass man leider nicht sofort versteht, was im übertragenen Sinne gemeint ist. Dies hält sich glücklicherweise so weit in Grenzen, dass es dem Charme und der Leichtigkeit dieses Buches keinen Abbruch tut.
Wer „Lieber Daddy Long Legs“ liest sollte keine bedeutungsschweren Metaphern erwarten. Es ist ein Buch, dessen Zauber in der Schlichtheit und Liebenswürdigkeit seiner Hauptfigur liegt. Als stiller Beobachter der Entwicklung Judys kann der Leser so einiges an Herzensgüte und Aufgeschlossenheit von ihr übernehmen. Als Autorin ihrer eigenen Briefe entwickelt sich Judy mit diesen zu der „großen Schriftstellerin“, die ihr Gönner von Anfang an in ihr sah.
*Erschienen bei Königskinder*
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Autorin / Autor: Lea - Stand: 20. Oktober 2017