Die Großmutter schreckte auf. Hatte sie geträumt? Sie konnte sich nicht erinnern. Vor ihr tanzten goldene Staubpartikel im Sonnenlicht über den Dielen, in der Küche tickte die Uhr. Das Haus atmete Nachmittagsstille.
Sie erhob sich aus dem Sessel, um ein Fenster weit zu öffnen. Wie mild und frisch die Luft draußen war! Aus dem Garten stieg der warme Duft feuchter Erde auf. Irgendwo im Holunder ganz hinten prüfte eine Amsel den Klang ihrer Stimme in dem dunstfeuchten Schweigen. Bald sirrten wieder die ersten Insekten aus den Verstecken, die sie vor dem Regen aufgesucht hatten. Eine zweite Amsel meldete sich zu Wort – energischer, herausfordernd – und mit den Sonnenstrahlen war die rege, unaufhaltsame, unergründliche Geschäftigkeit der Natur zurückgekehrt.
Dann hörte die Großmutter, wie die Haustür geöffnet wurde. Kurze Schritte im Flur. Ihr jüngstes Enkelkind lugte in die Stube. „Oma, guck mal, für dich, wir haben begonnen zu ernten!“ Sie stürmte durchs Zimmer, grinste vor Stolz und hielt der Großmutter ein tropfendes Bund Mairüben wie einen Blumenstrauß unter die Nase. „Hallo, meine Kleine“, sagte die, zog sie zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Die sehen ja wunderbar aus. Wollen wir sie nachher gleich knabbern?“ Das Mädchen nickte und lief in die Küche hinüber. Sie war jetzt schon eine ausgezeichnete Gemüsegärtnerin. Manches Mal hatte die Großmutter gefragt, ob sie mit den Pflanzen sprechen würde, sie fragte, was sie bräuchten, ob sie unter ihren kleinen Händen deshalb so gut gediehen.
„Jetzt gibt es nämlich erst mal Kuchen mit unseren ersten Erdbeeren, was haltet ihr davon?“, rief sie der Kleinen nach und den Jungen zu. „Hallo Oma. Klingt bonfortionös. Ich verhungere.“ Der Ältere war in den Türrahmen getreten, schon wieder ein Stück gewachsen und immer noch viel zu dünn, obwohl er aß wie eine siebenköpfige Raupe.
Endlich kam auch der Jüngere herein. „Hallo, Oma!“ Er umarmte sie. Sie strich ihm das nasse Haar aus der Stirn. „Hast du wieder deinen Regenhut vergessen?“ – „Ja… wir waren doch heute Morgen im Hutewald, da war es noch trocken. Weißt du, was wir dann gesehen haben?“ Er sprang auf und ab. Weil er sonst vor ungeteilter Freude geplatzt wäre, fuhr er gleich fort: „Die Blauracken sind da! Ganz nah am Schulgarten! Herr Brodersen sagt, sie fangen bestimmt bald an zu brüten. Stimmt es, dass sie mal ausgestorben waren?“ Sie deckten den Tisch begleitet von Blauracken und Großtrappen, dann und wann unterbrochen von den ungläubigen Fragen der Kleinen, und ihren Berichten von einigen Schwalbenschwänzen, die sie schon entdeckt hatte.
Die Gedanken der Großmutter begannen zu wandern. Ausgestorben, ja, ausgestorben war so manches gewesen. Ganze Landstriche. So viele Geschöpfe verschwunden, verloren, verhungert an dem Überfluss, den die Menschen angehäuft hatten. Vergiftet von ihrer Gier.
Die Jahre vor der der Schwarzen Woche waren in ihrer Erinnerung wie ein verschwommener Fiebertraum. Jeder Sommer hatte seine Hitzetoten gefordert. Trinkwasser war nur stundenweise verfügbar gewesen und in den Slums oft gar nicht mehr. In allen Meeren zerrieb sich Plastik, das war schon lange bekannt gewesen – aber das sah ja niemand. Wie Giftgas oder Strahlung – das sah ja niemand. War es wirklich gefährlich? War es real?
Es hatte damit begonnen, dass kein Soja mehr aus Südamerika kam. Der Export stoppte so plötzlich, wie eine Wüste entstanden ist, wenn man den letzten Baum gefällt hat.
Der Pilz, der als ungefährlich galt, hatte sämtliche Anbauflächen befallen. Die Bohnen waren schwarz und ungenießbar. Die gesamte Ernte musste vernichtet werden, und in den Mastanlagen der Welt hatten die Tiere vor Hunger geschrien.
Fleisch so billig wie bisher zu erzeugen, war ohne Futterimporte unmöglich. Die Mastanlagen wurden aufgegeben. Tier zu essen, wurde so teuer, wie es sein musste, um Rindern, Schweinen und Geflügel auch ein Leben und nicht nur ein Dasein zu ermöglichen.
Der Regenwald eroberte sich die aufgegebenen Ackerflächen zurück.
In Europa wurden überall eiweißreiche Linsen, Erbsen und alle Arten von Bohnen angebaut, wie es schon vor 300 Jahren üblich war. Die Leguminosen sorgten dafür, dass der überreich vorhandene Stickstoff aus der Luft gebunden wurde.
Landwirte trieben wieder kleine Rinderherden auf Weiden. Auf all diese Offenflächen kehrten allmählich Farbtupfer, verschiedenste Blüten, und dann die Schmetterlinge zurück. Natürlich auch die Bienen und all die Anderen, die im Verborgenen wirken. Unglaublich, wie die Natur sich regenerieren konnte! Immer noch kann! Samen verschwundener Pflanzen schlummerten jahrelang im Boden, um doch wieder auszutreiben. Wieder zu blühen.
Sie führten heute ein einfaches Leben, dachte die Großmutter, ohne Auto, eigenen Fernseher oder Computer. Suffizienz, das hatte sie in ihrer Jugend zum ersten Mal gehört.
Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn würden noch bis zu den ersten Frosttagen fort sein, das gefiel ihr nicht, und schon gar nicht der Kleinen. Aber alle zwei Wochen kam eine Postkarte, auf der sie von ihrer Arbeit auf dem SEESORGER schrieben. Meine Lieben, wir haben Glück, hieß es zuletzt, die Strömung treibt uns diese Woche jeden Tag 30 Tonnen Plastik ins Netz. Bis wir uns wiedersehen, könnt ihr euch überlegen, was wir mit all dem schönen Öl anstellen! Das wäre tatsächlich eine Aufgabe für den Ältesten, ihren kleinen Tüftler, der das Meer so liebte. Er würde sicher keine Ruhe geben, bis der letzte Mikroplastikpartikel herausgefischt und unschädlich gemacht war. Ressourcenkunde war sein Lieblingsfach. Wer weiß, welche geniale Lösung er zur Verwertung dieser Altlasten fand – dieser letzte Quelle von Erdölprodukten?
Kritische Kunde fiel ihm schwerer. Wenn die Kinder über Konsum und Wirtschaftsformen der Geschichte diskutierten, fragte er sie oft, wie es früher war. Jetzt auch. Oh, sie hatte ihm gerade nicht zugehört. „Oma?“
„Oma?“
Die Großmutter schlug die Augen auf. Hatte sie geträumt? Sie erinnerte sich nicht. Es dämmerte schon. Sie musste die Fenster abdichten, die Kinder zur Schule bringen, ehe Strahlungs- und Gasbelastung zu stark wurden.
Wann würde es nur regnen?