Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg
Autor: Nikolaus Nützel
Nazidiktatur, Judenverfolgung und der Zweite Weltkrieg sind in unserer Gesellschaft noch immer weitgehend präsent – ein Schwerpunkt im Geschichtsunterricht in der Schule, und immer wieder durch die Feierlichkeiten zu Jahres- und Gedenktagen im kollektiven Gedächtnis wach gehalten. Der Erste Weltkrieg hingegen, dessen Beginn sich im kommenden Jahr zum einhundertsten Mal jährt, scheint uns viel weiter entfernt und weniger greifbar. Dass ebendies eigentlich eine Illusion ist, beweist der renommierte Jugendsachbuchautor Nikolaus Nützel eindrucksvoll in einem sehr persönlichen und kritischen Werk, das die Brücke zwischen der Generation seines Großvaters, eines Kriegsveteranen, und unserer Gegenwart schlägt.
Mit einer persönlichen Anekdote beginnt der Text: In der Familie des Autors wurde über viele Jahre stets jener Tag gefeiert, an dem der Großvater Alfred Müller durch eine Granate auf einem französischen Schlachtfeld im Jahr 1914 das linke Bein verlor. Was ungewöhnlich klingt, hatte einen guten Grund – zwar hatte der Krieg einen jungen Mann zum Krüppel gemacht, doch letztlich rettete die frühe Verwundung dem Großvater vermutlich das Leben. Er schied aus dem Militär aus, während in den folgenden vier Jahren mehr als zwei Millionen seiner Kameraden ihr Leben verloren.
Nikolaus Nützel zeichnet in seinem Buch die Geschichte des Krieges nach, analysiert aber vor allem Zeitgeist und politische Umstände, die diesen überhaupt erst unausweichlich werden ließen, und er versucht, die Denkmuster und heute bizarr und verzerrt wirkenden Überzeugungen jener scheinbar kriegsbegeisterten Generation, die sich und ihr Land ins Verderben stürzte, besser zu verstehen und verstehbar zu machen. Die Darstellung ist dabei bemerkenswert offen, ungeschönt und kritisch: Nützel verschweigt nicht, dass auch seine eigenen Großeltern den Krieg befürworteten, ja später sogar überzeugte Nationalsozialisten waren. Viele Fotos und Originaldokumente machen das grausame Kriegsgeschehen anhand persönlicher Schicksale greifbar und verursachen beim Lesen nicht selten ein flaues Gefühl im Magen. Vor allem aber wirft der Text auch neue Fragen auf und regt intensiv zum Nachdenken an – Ist die Schuldfrage wirklich so eindeutig zu beantworten? Wie hätte man selbst damals über die Geschehnisse gedacht, wenn man von klein auf derselben unaufhörlichen Propaganda ausgesetzt gewesen wäre, die den jungen Leuten von damals eine kontinuierliche Gehirnwäsche verpasste?
Auch, wie weit der Krieg oder Bewegungen, die in dieser Zeit ihren Anfang nahmen, bis in unsere Gegenwart hineinwirken, wird eindrucksvoll deutlich: Nicht nur Schlachtfelder und Gedenkstätten sind ein Erbe des Ersten Weltkriegs, sondern auch politische Konflikte der heutigen Zeit – etwa die Differenzen zwischen EU und Türkei über die Ächtung des Völkermords an den Armeniern, die maßgeblich die EU-Beitrittsverhandlungen des Landes erschweren. Und selbst heute weltweit marktführende Unternehmen wie ThyssenKrupp oder Bayer etwa begründeten ihr wirtschaftliches Fundament zur damaligen Zeit – mit der Lieferung von Waffen oder Giftgas an die deutsche Armee.
Auch oder gerade wenn uns der Erste Weltkrieg heute fern erscheint, ist Nützels Buch eine beeindruckende, fesselnde und schockierende, aber vor allem sehr augenöffnende Lektüre, die authentisch und gut zugänglich die damaligen Gräuel und ihre Nachwirkungen bis in unsere Gegenwart verdeutlicht. Der Autor wurde bereits mehrfach für andere seiner Werke mit wichtigen Buchhandelspreisen prämiert – auch "Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg" hätte wahrlich eine Auszeichnung verdient.
*Erschienen bei arsedition*
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Autorin / Autor: fabienne - Stand: 9. September 2013