Meine dunkle Vanessa
Autorin: Kate Elizabeth Russell
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Es ist das Jahr 2000. Die fünfzehnjährige Internatsschülerin Vanessa Wye kehrt nach den Sommerferien zu Beginn ihres zweiten Schuljahrs an die Browick High School zurück. In ihrem Leistungskurs Amerikanische Literatur erwartet sie ein neuer Lehrer, der 42-jährige Jacob Strane. Vanessa tritt dem von ihm geleiteten Club für Kreatives Schreiben bei und fühlt sich schon bald zu ihm hingezogen. Nach dem Unterricht bleibt sie länger sitzen, um sich mit Strane über Literatur auszutauschen und ihm ihre eigenen Gedichte zu zeigen. Es dauert nicht lange, bevor er ihr Nabokovs „Lolita“ schenkt – ein Geheimnis, welches sie auf keinen Fall mit ihren Mitschülerinnen teilen darf. Vanessa fühlt sich geschmeichelt und geehrt, von ihm auserwählt worden zu sein. Schon bald versteckt sie sich jeden Nachmittag in Stranes Büro und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie schließlich das erste Mal mit ihm schläft. Es beginnt eine mehrjährige Affäre.
Im Jahr 2017 kommen im Rahmen der #MeToo-Bewegung zunehmend mehr biografische Berichte über sexuellen Missbrauch ans Licht. So wird auch Strane von einer ehemaligen Schülerin als Täter entlarvt. Diese veröffentlicht einen Beitrag im Netz, welcher rasch an Aufmerksamkeit gewinnt. Eine Journalistin erfährt von den Gerüchten um Vanessa und kontaktiert sie mit der Absicht, Vanessa als weiteres Opfer Stranes zu präsentieren. Doch Vanessa lehnt ab, denn sie ist sich sicher: Es war Liebe und kein Missbrauch. Sie fühlt sich verpflichtet, Strane zu beschützen. Immer wieder kehrt sie in Gedanken zu ihrer Beziehung mit ihrem Lehrer zurück. Sie hat es doch gewollt und alles geschah mit ihrem Einverständnis. Oder etwa nicht? Als Vanessa beginnt, ihre damaligen Entscheidungen zu hinterfragen, machen sich Zweifel breit und sie findet sie sich schon bald mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert: Reden oder schweigen?
*"Schon lange habe ich kein Buch mehr gelesen, welches mich so erschüttert hat"*
„Meine dunkle Vanessa“ beleuchtet vor allem die psychologischen Folgen von Missbrauch aus der Sicht des Opfers. Der Roman ist aus der Ich-Perspektive – der Sichtweise Vanessas – erzählt. Die Handlung spielt 2017, nachdem Jacob Strane des Missbrauchs angeschuldigt wurde. Es finden Zeitsprünge zum Jahr 2000 statt, als Vanessa im Alter von fünfzehn Jahren mit ihm eine Affäre beginnt. Der/die Leser/in verfolgt ihre Beziehung über die Jahre mit – immer wieder unterbrochen von der aktuellen Handlung. Man erlebt hautnah, wie die inzwischen erwachsene Vanessa regelrecht mit sich kämpft, die alten Verstrickungen zu lösen, ihre eigene Geschichte umzudeuten und den Missbrauch – und darum handelte es sich ganz offensichtlich – mit den Augen der anderen zu sehen. Die Schilderungen sind genauso beeindruckend wie verstörend. Als Leser/in schwankt man zwischen den verschiedensten Emotionen: Entsetzen, Ekel, Wut, Mitleid und Empathie. Ich habe das Buch an einigen Stellen vorübergehend zur Seite legen müssen, um das Ungeheuerliche zu verarbeiten. Schon lange habe ich kein Buch mehr gelesen, welches mich so erschüttert hat.
Die Autorin Kate Elizabeth Russell hat 18 Jahre an „Meine dunkle Vanessa“ geschrieben. Man merkt, dass sie sich lange und ausführlich mit dem Thema Missbrauch beschäftigt hat und sich mit der Gedanken- und Gefühlswelt der Opfer auskennt. Der Roman beleuchtet auch andere Seiten – nicht nur den Missbrauch an sich, sondern vielmehr die lebenslangen Folgen, mit denen Vanessa, längst eine erwachsene Frau, zu kämpfen hat. Interessant fand ich auch die zahlreichen Parallelen und Vergleiche zu anderen Literaturwerken wie „Lolita“ von Vladimir Nabokov. Für Vanessa ist „Lolita“ eine großartige Liebesgeschichte, die vom Rest der Welt missverstanden wird. Sie vergleicht ihre Beziehung zu Strane immer wieder mit der zwischen Dolores und Humbert.
„Meine dunkle Vanessa“ ist ein unheimlich wichtiges Buch, welches Verständnis für das Thema Missbrauch weckt. Oftmals müssen sich Opfer anhören, dass sie den Täter doch hätten anzeigen können. Vanessas Geschichte zeigt, dass dies angesichts der psychologischen Abhängigkeiten, die in solchen Beziehungen unweigerlich entstehen, gar nicht so einfach ist und viel Mut und Einsicht erfordert. Der Roman ist mit seinen 448 Seiten und teils sehr detaillierten Schilderungen nicht angenehm zu lesen, aber das soll er wohl auch nicht sein. Ich kann ihn vor allem denjenigen empfehlen, die sich schon 2017 für #MeToo interessiert haben.
*Erschienen bei C.Bertelsmann*
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Autorin / Autor: lucky2000 - Stand: 11. Februar 2021