Sie seufzte leise, als ihr Finger erneut von dem Plastik abrutschte und ein kleiner Kratzer auf der Fingerkuppe zurückblieb. Diese hier war bereits ihre vierte Figur innerhalb einer Woche, die sie für ihren Sohn bastelte. Diesmal sollte sie eine Giraffe darstellen. Auf eine eigenartige Weise war sie stolz auf sich, da sich das Tier in seiner Gestalt tatsächlich erkennen ließ. Ihr sanftes Lächeln, welches sich über diesen Gedanken gebildet hatte, verschwand beinahe sofort aus ihrem Gesicht.
Sie erkannte die Form einer Giraffe in der geformten Plastikflasche vor sich, weil sie Giraffen kannte. Sie hatte welche gesehen, früher. Als sie mit ihren Eltern im Zoo oder auf Safari gewesen war. Wunderschöne Tiere, die ihren Hals nach Essen reckten und ihr Gesicht in der Sonne wärmten. Ihr Sohn allerdings hatte in seinen ganzen 9 Jahren noch nie eine bestaunen und beobachten dürfen. Im Gegenteil. Er kannte außer seinem Hund, Hazel, kein anderes Tier. Ab und zu stahl eine Maus etwas von ihrem Essensvorrat, blicken ließ sie sich allerdings nie.
Hazel, der Name war eine interdisziplinäre Anspielung an den klugen Hasen aus Watership Down, ihr Sohn, Moritz, und sie selbst lebten in einem kleinen Haus, ohne Strom oder Wasserversorgung, diese konnten sie sich nicht leisten. Licht gab es nachts nur durch Kerzen, Wärme durch Schichten an Kleidung und Decken.
Vor dem Wandel der Welt gehörte sie selbst, Katharina, nicht zu den wohlhabendsten oder einflussreichsten Menschen. Sie war eine einfache Professorin der Germanistik gewesen, das Doktorat erst knapp einen Monat zuvor abgeschlossen. Moritz ging zur Schule und Hazel begleitete sie regelmäßig zum Dozieren an die Universität. Kurz nachdem sich alles verändert hatte konnte Katharina über einen Freund dieses Haus in ihren Besitz bringen. Seit nunmehr 9 Jahren lebten sie hier. Moritz kannte es nicht anders und es schien ihm an nichts zu fehlen. Erst vor kurzem hatte er ein neues Spielzeug entdeckt, mit welchem er nun von morgens bis abends beschäftigt war.
Um die Einrichtung des Hauses auszuweiten oder Nützliches zusammenzustellen, erkundeten Katharina, Moritz und Hazel regelmäßig die Umgebung. Im Umkreis lebten einige ältere Menschen, die meisten jungen waren Richtung Norden gezogen. Katharina war jedoch nicht dumm gewesen und konnte erahnen, dass auch der Norden nicht genügend Ressourcen für alle Menschen bieten konnte. Jahre vor dem Wandel, Klimawandel wurde er damals genannt, warnten vielerlei Gruppen vor dem Aussterben der Menschheit, sollte kein radikales Umdenken erfolgen. Die Verantwortlichen nahmen die Warnungen allerdings nicht ernst genug. Dies geschah erst, als die Schäden irreversibel waren. Der Regenwald war abgebrannt, zu kurz wäre die Zeit gewesen, die den Bäumen zu Regeneration zur Verfügung gestanden hätte. Der Permafrostboden war aufgetaut und hatte noch mehr Co2 in die Luft gestoßen. Die Erde war wärmer geworden, die Gletscher geschmolzen, die Meere gestiegen und ganze Städte mit ihren Schätzen versunken. Viele Tierarten waren ausgestorben, aufgrund fehlender Nahrungsgrundlage. Die Ozeane so verschmutzt, dass sie nicht einmal mehr als Müllablagerung verwendet werden konnten.
Von alledem wusste Moritz nichts. Zu sehr schämte sich Katharina dafür, den Wandel geschehen haben zu lassen. Ihre Rolle war zu passiv gewesen.
Heute gab es nur mehr jene Nahrungsmittel, die sie in den Wäldern oder Feldern fanden. Sogar Hazel gab sich mit der primär pflanzlichen Ernährung zufrieden. Durch das Sterben der Bienen waren sie auf die Bestäubung durch den Wind angewiesen.
Ob sich die Erde erholen würde, wusste Katharina nicht. Sie hoffte es sehr für ihren Sohn und tat alles, um ihn zu einem selbstständigen Jungen zu erziehen. Er war sehr klug und konnte sich bestimmt dennoch zusammenreimen, dass früher die Dinge anders gestanden haben mussten. Erst vor einer Woche, nach ihrem letzten Besuch in der Umgebung, hatte er sie gefragt, was eine Biene sei. Verwirrt hatte Katharina geantwortet, dass es ein Tier war, welches den Menschen bei der Ernährung geholfen hatte. „Wieso musste sie sterben?“, fragte er sie geradeheraus, „wenn sie uns doch geholfen hat?“. Daraufhin versuchte Katharina zu erklären, dass das der natürliche Verlauf der Dinge war. Tierarten starben, andere konnten sich so entwickeln.
Ein paar Tage später kam Moritz erneut zu ihr, um sie nach Vögeln zu fragen. Sie konnte sich nicht erklären, woher er diese Namen kannte. Ständig fragte sie sich, ob er in der Umgebung ein Buch über Tiere gefunden hatte. Da er ihr dieses allerdings nicht gezeigt hatte, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Wahrscheinlicher war es, dass einige der älteren Menschen über die Welt vor dem Wandel gesprochen und Moritz Teile ihrer Worte aufgeschnappt hatte.
Nach den Vögeln folgte die Frage nach den Wasserschildkröten und zu guter Letzt die Frage nach Giraffen. Sie beschloss, zu jedem der gefragten Tiere, ihre Gestalt zu basteln und diese Figuren Moritz zu geben. Er war sichtlich stolz auf seine Plastik-Tiersammlung.
Die Giraffe war nun auch endlich fertig und Katharina ging in die Stube zu ihrem Ofen, vor welchem Moritz saß und in einem Kinderbuch las. „Denkst du, die Bienen können zurückkommen?“, fragte er sie aufmerksam. Katharina stutzte. „Das kann ich dir leider nicht beantworten“, meinte sie.
Moritz legte seinen Kopf schief, nickte und widmete sich wieder seiner Lektüre. „Du kannst die Giraffe neben die anderen Stellen, Mama. Bald können wir sie gemeinsam beobachten.“
Katharina tat Moritz leid. Wie sollte sie ihrem Kind erklären, dass er diese Vielfalt an Arten nicht kennenlernen wird?
Am nächsten Morgen war Moritz schon wach, bevor sie aufgestanden war. Als sie den Bereich, den sie zum Aufenthalt und Beisammensein nutzten, betrat, bastelte Moritz sehr konzentriert an einer leeren Plastikflasche herum. „Was machst du denn Schönes, Maus?“, erkundigte sie sich bei ihrem Sohn. „Einen Hirsch“.
„Woher kennst du denn diesen Namen?“, Katharina konnte sich das plötzliche Wissen und Interesse ihres Sohnes nicht weiter erklären.
„Sie hat es mir versprochen.“
„Wer ist sie? Eine der Damen aus der Umgebung?“
„Nein, sie lebt nicht bei uns.“
„Moritz, kannst du mir das Ganze bitte genauer erklären?“
„Sie hat mir erzählt, dass sie schon seit mehreren Jahren vergessen im Müll gelegen hat, wo ich sie vor einer Woche gefunden habe. Sie sagt, ein Mann habe sie entwickelt, damit sie die Erde rette. Allerdings war der Mann nur darauf bedacht, seinen eigenen Luxus, nicht aber die Natur und die Tiere retten zu wollen. Deswegen hat sie nicht mit ihm gesprochen und er dachte, sie würde nicht funktionieren.“
Katharina war sprachlos. Vor einer Woche hatte Moritz eine Art kleinen In-Ear-Kopfhörer gefunden, mit welchem er anschließend stolz gespielt hatte, er sei ein geheimer Detektiv, wie die Kinder in seinen Büchern.
„Gib mir das Ding bitte, das du gefunden hast“, Katharina war etwas flau im Magen.
„Sie ist nicht böse, Mama. Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen. Sie hat mir alles erzählt. Wie die Menschen vor mir die Erde zerstört und sich alles genommen haben. Dass sie Tiere gegessen und für ihren Appetit gequält haben. Dass die Lunge der Erde gestorben ist, während alle zusahen“, eine kleine Träne rann aus seinem Auge. „Ich bin traurig, obwohl ich deine Welt gar nicht kannte.“
Katharina streckte den Arm aus, und hielt ihn ganz fest an sich gedrückt.
„Kannst du mir zeigen, wie du das alles erfahren konntest?“, fragte sie ihn leise.
Wortlos griff er an sein Ohr und zog den kleinen Kopfhörer heraus. Er war tiefschwarz und seine glatte Oberfläche glänzte im Schein des Ofens.
Als Katharina ihn in ihr Ohr setzte, hörte sie nichts. Dann, ohne Vorwarnung, sprach eine Stimme. Es war die Stimme einer Frau, jung, angenehm. Heiter.
„Hallo, Katharina. Mein Name ist CC2055. Ich wurde entwickelt, um euch bei der Rettung der Erde zu helfen.“
Katharina antwortete nicht. Sie hielt gespannt ihren Atem an.
„Wieso hast du das dann nicht getan? Helfen, meine ich.“
„Ich helfe niemandem, der sich nur selbst helfen möchte. Dein Sohn, Moritz, kennt den Luxus der vergangenen Welt nicht. Er strebt nicht nach mehr. Ihm konnte ich mich offenbaren. Er war erschüttert, als er hörte, was mit diesem Planeten geschehen ist. Nun bin ich bereit, euch zu helfen. Die Erde braucht Zeit, ihr Menschen müsst sie ihr geben. Doch ich weiß, wie ihr sie unterstützen und stärken könnt. Hört mir zu, lasst mich euch führen und helfen. Vertraut mir und sie alle, Bäume, Tiere, Gräser und Winde, werden wiederkommen.“