Studie der LMU: Viele Tools in den sozialen Netzwerken sind quasi eine "Überwachungssoftware"
Als der beliebte Instant-Messenger Snapchat mit Snap Map sein neuestes Feature vorstellte, hagelte es Kritik von besorgten Eltern und Kinderschutzorganisationen. Der Grund: Mit dem Tool kann jede_r Nutzer_in auf einer Karte – bis hin zur genauen Adresse – in Echtzeit verfolgen, wo Freund_innen sich gerade aufhalten und woher die Posts kommen. Aber nicht nur Eltern waren entrüstet, auch in den sozialen Medien war schnell die Rede von einer „Stalking-Software“.
Doch die Snapchat-Funktion ist nur die neueste in einer ganzen Reihe von Tools in den sozialen Medien, die es ermöglichen, ziemlich genau nachzuverfolgen, wo sich die Nutzer_innen gerade aufhalten – und zwar ohne dass diese es bekommen, erklärt Professor Neil Thurman vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU. Einige dieser Apps stellten Snap Map sogar weit in den Schatten, was die Möglichkeiten der Überwachung angeht, so der LMU-Forscher. Mit ihnen ließen sich Nutzer in regelrechten Bewegungsbildern über einen längeren Zeitraum und verschiedene soziale Netzwerke hinweg tracken. Dazu gehören zum Beispiel Echosec, Dataminr, Picodash und SAM. Doch während Snap Map sich an die breite Öffentlichkeit richtet, richten sich viele der anderen Monitoring-Apps in den sozialen Medien eher an professionelle Nutzer wie zum Beispiel Sicherheitskräfte, Journalisten und Marketing-Spezialisten.
Journalist_innen nutzen diese Apps zum Beispiel dazu, herauszufinden, wer, was, wann und wo geschrieben hat und wie man die Urheber_innen von bestimmten Inhalten finden, filtern und nachverfolgen kann. In der Tat können die Apps dabei helfen, News, die in den sozialen Medien auftauchen, auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen und herausfinden, ob Zeugenberichte tatsächlich vom Ort des Geschehens gepostet wurden.
„Diese Apps sind von einigen Journalisten als eine Art ,Frühwarnsystem‘ begrüßt worden“, sagt Thurman. Sie hätten aber auch, so argumentiert er, Konsequenzen für die Privatsphäre der Nutzer_innen. In seiner Untersuchung hat der Münchner Kommunikationswissenschaftler britische Journalisten interviewt, die in einem Studiensetting mit einigen dieser Funktionen experimentieren konnten. Einer von ihnen sagte danach, die Aufenthaltsorte einzelner Social-Media-Nutzer minutiös nachverfolgen zu können, fühle sich „moralisch nicht ganz richtig und stalkermäßig“ an.
Solche Bedenken sind aber offenbar nicht weit verbreitet. Eine der in der Untersuchung beschriebenen Apps, Geofeedia, bewarb der Hersteller recht offensiv: Sie gebe der Polizei die Mittel an die Hand über die sozialen Medien Gewerkschaftler, Protestierende und Gruppen von Aktivisten, die in seinen Augen eine „offenkundige Bedrohung“ darstellten, zu überwachen. Die Kontroverse, die um die Geofeedia entstand, kostete die App allerdings das Leben, weil sich die großen Social-Media-Plattformen aus Angst vor negativer Publicity weigerten, die App weiterhin mit ihren Daten zu füttern.
Die riesigen Daten-,Ökosysteme‘ von Apps auf ihren Plattformen machen es den führenden Social-Media-Anbietern unmöglich, diese Form sozialer Überwachung zu verhindern, zitiert Thurman das Wirtschaftsmagazin Forbes. „Wie wir mit dem Launch von Snap Map gesehen haben, verschwindet die Überwachung in den sozialen Medien nicht einfach wieder“, warnt der Medienwissenschaftler. „Möglicherweise kennen wir schon den Trick, uns auf Snapchat zum „Ghost“ zu machen. Aber wer von uns weiß schon, dass unsere Posts in den sozialen Medien – nicht nur auf Snapchat – unseren Aufenthaltsort an Organisationen in aller Welt verraten können, die solche Monitoring-Apps nutzen, von denen die meisten von uns noch nie gehört haben?“ heißt es in der Untersuchung, die jetzt im Fachblatt Digital Journalism erschienen ist.