Suicide Room
Geschlossene Räume, offene Wunden - Suicide Room ist ein Film, der einen an den Abgrund stellt und unbarmherzig hinunterstößt.
Im Flur des Bürogebäudes, in dem seine Mutter arbeitet, bleibt Dominik stehen. Er drückt auf den Aufzugsknopf. Die Türen bleiben geschlossen. Auch sein Türchip bringt ihn nicht weiter. Er rutscht an der holzvertäfelten Wand entlang auf den Boden, öffnet seinen Laptop, dieses Video fesselt seine Aufmerksamkeit, dieses Video das eine Freundin ansah, dieses Video, in dem sich jemand selbst Wunden zufügt. „Geschlossene Räume, offene Wunden“ steht in der Videobeschreibung. Irgendwohin geht es immer, wenn es nicht mehr weitergeht. Suicide Room vom polnischen Regisseur Jan Komasa ist ein Film, der einen an den Abgrund stellt und unbarmherzig hinunterstößt.
Dominik (Jakub Gierszał) soll Abitur machen, soll Karriere machen, soll das gleiche perfekte Leben seiner Eltern (Agata Kulesza und Krzysztof Pieczyński) führen. Der erste Schritt in die falsche Richtung ist schnell gemacht, und bald findet sich Dominik im virtuellen Suicide Room wieder, wo er endlich auf jemanden trifft, der ihm zuhört: Sylwia (Roma Gąsiorowska) mit den pinken Haaren, eine Maske tragend, am Ende von Allem, nach Tabletten verlangend. Das Dilemma und die Frage, die der Film aufwirft: Hilft diese Hilfe wirklich?
Suicide Room ist ein wunderschöner Film. In tiefen Blau- und Schwarztönen gehalten, strahlen die Bilder eine reglose Ruhe und tiefe Trauer zugleich aus, man fühlt sich wie auf dem Grund eines Ozeans, wo man das Tageslicht hinter den Wassermassen nur erahnen kann. Der andere Pol: Pittoreske Pixelbilder malen den virtuellen Chatraum in einer Brillanz und Ästhetik, dass einem beinahe schlecht wird. Hinter den Bildern findet man sich in den Abgründen einer einsamen und verlachten Teenieseele wieder, die einen nicht mehr so schnell gehen lässt.
Man fühlt sich hin- und hergerissen zwischen der optischen Schönheit auf der einen und der inhaltlichen Dramatik des Films auf der anderen Seite, und gerade diese Symbiose aus beidem lässt einen über die offen gebliebenen Fragen hinwegsehen, die wohl niemand so leicht zu beantworten vermag: Kann Dominik durch den Aufenthalt im Suicide Room das zum Ausdruck bringen, was vorhin schon da war oder werfen ihn die Gespräche mit Sylwia nur mehr zu Boden? Inwieweit sind seine Depressionen und Abgrenzungsversuche “echt”? Möchte Dominik nur irgendwo dazugehören, sei es auch zu einer Gruppe von “Selbstmördern”? Der Film reißt diese Themen an, ohne die Kanten zu glätten. Aber auch das ist stimmig mit dem Motiv der Unruhe und Haltlosigkeit; eine vollständige Klärung schiene fehl am Platz. Einzig die erzwungene Stereotypisierung Dominiks, der im Laufe des Films zum typischen Emo-Boy mutiert, stößt negativ auf. Das wirft den unangenehmen Gedanken auf, dass es Dominik eben doch nur oberflächlich um das Wir-Gefühl einer Gruppe Teenies geht, die eben „anders“ sind.
Auch erwähnenswert: Die sture Dickköpfigkeit von Dominiks Eltern, die tragisch-komisch beinahe den gesamten Film über ihren hoffnungslosen Träumen eines erfolgreichen Sohnes nachhängen, was man den beiden irgendwie nicht so ganz abkaufen mag. Die wahrhaftig irre Sylwia, die ständig vom Selbstmord spricht und ihn aber erst vollziehen möchte, wenn sie dank einem Tabletten-Alkohol-Gemisch auch wirklich keine Schmerzen haben wird. Die Eltern ein Abklatsch von tragisch misanthropischen Menschen, die Pinkhaarige eine ekelhafte Poserin. Kein Wunder, dass man sich beinahe gerne mit Dominik identifiziert.
"Suicide Room" ist mehr als ein Film, der über die Gefahren von Mobbing und sozialen Netzwerken aufklären will. Aber gerade über diese Schnittstelle gelingt der Zugriff auf das Thema am leichtesten, was dem Film bei Weitem nicht gerecht wird. Hier liegt es also am Zuschauer, wie viel er sehen will oder kann. Nach einigen Längen in der Mitte des Films, schafft es der Regisseur, im letzten Drittel nochmal alle Geschütze aufzufahren und nicht das naheliegendste Ende zu wählen. Durch all die Wirrungen zwischen Realität und Virtualität zieht sich ein Band, das alles Erlebte und Un-Erlebte in Zaum hält; der Grundtenor des Films bleibt durchweg erhalten. Somit gelingt es “Suicide Room”, ein Gefühl zu hinterlassen, das noch lange nachhängt.
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Autorin / Autor: Annika Willinger - Stand: 20. April 2012