Nora hat einen ziemlich unangenehmen Vormittag vor sich: Zusammen mit ihrem Ex-Freund Wes und Iris, mit der sie seit der Trennung von Wes zusammen ist, will Nora Geld bei einer Bank einzahlen, dass die drei für einen guten Zweck gesammelt haben. Das Ziel ist also klar: rein in die Bank, wieder raus, und das alles so schnell wie möglich, ohne peinlichen Smalltalk oder unangenehme Gesprächspausen. Doch als plötzlich zwei bewaffnete Männer in die Lobby stürmen, sind die bösen Blicke zwischen Wes und Iris auf einmal nicht mehr Noras größtes Problem. Während aus Kunden Geiseln werden, macht sich Panik breit: Eine Wachmann wird verletzt, eine Mitarbeiterin bricht zusammen – und in Nora werden alte Instinkte wach, die sie mit aller Macht zu unterdrücken versucht hat. Die Situation überfordert sie, aber nicht die Mädchen, die sie in ihrem früheren Leben gewesen ist: Sie waren es gewohnt, wachsam zu sein, ihren Zielobjekten zu geben, was sie wollen, und dafür zu opfern, was nötig ist. Nora ist hin und her gerissen zwischen ihrer Gegenwart (ihrer wunderschönen Freundin, die verängstigt, verwirrt, und gekrümmt vor Schmerzen auf dem Boden kniet) und ihrer Vergangenheit (ihrem Bedürfnis, mit den Bankräubern zu verhandeln, sie auszutricksen und die Geiseln zu befreien). Und ihr wird von Minute zu Minute klarer, dass sie beides nicht länger trennen kann…
Jedes Buch erzählt eine andere Geschichte, auch wenn die Idee meist schon einmal verarbeitet wurde: In einem anderen Stil, einem anderen Setting, einer anderen Zeit – doch wirklich neue Ideen sind extrem rar. Die Idee, die wichtigsten Motive von „The Girls I’ve Been“ scheinen einzigartig, und doch musste ich beim Lesen immer wieder an ein anderes Buch denken, dass seine Leserinnen auf eine ganz ähnliche Reise nimmt: „Sadie – Stirbt sie, wird niemand die Wahrheit erfahren“ von Courtney Summers. Das rote Cover, die starke Bindung zwischen zwei Schwestern, die unverzeihliche Schuld einer Mutter – und die unvorstellbaren menschlichen Abgründe, die einen schalen Geschmack im Mund erzeugen. All diese Punkte teilen die beiden Romane, obwohl die Geschichten sich kaum ähneln. Ein wirklich bemerkenswerter Zustand, der dem Lesevergnügen von „The Girls I’ve Been“ absolut keinen Abbruch tut.
Tess Sharpe gelingt es auf eine ganz besondere Art und Weise, dem Leser die Geschichte von Nora zu erzählen; all ihre Geschichten, um genau zu sein. Die erzählerischen Reisen in die Vergangenheit nehmen etwas Tempo aus der Geschichte, ohne dass es wirkt, als würden die Geschehnisse in der Bank künstlich in die Länge gezogen. Stattdessen versteht man als Leser mit jeder Rückblende besser, warum sich unsere Heldin genauso verhält, wie sie es tut. Außerdem ist einem eine Atempause vergönnt, um sich zu sammeln, bevor die Situation in der Bank unweigerlich weiter eskaliert. „The Girls I’ve Been“ ist ein wirklich spannender Thriller mit einer Art doppeltem Boden: Während man denkt, man würde im Pool langsam mit den Füßen auf den Boden kommen, hat man sich in einem unsichtbaren Netz verfangen, dass es einem unmöglich macht, Halt zu finden. Tess Sharpe zeigt uns, dass es manchmal nicht die Waffe vor seinem Gesicht ist, die einen Menschen bedroht, sondern Erinnerungen, die in sein Gedächtnis eingebrannten sind, und ihn für immer verändert haben. Ein unterhaltsames und gleichzeitig berührendes Buch!
*Erschienen bei Carlsen*
Autorin / Autor: lacrima - Stand: 4. Januar 2022