Was halten PolitikerInnen eigentlich von uns BürgerInnen? Am ehesten findet man es heraus, wenn man sich einmal genauer anschaut, was sie in ihren Reden über "uns" sagen. Deshalb hat sich eine Studie des Seminars Medienwissenschaft der Universität in Koblenz und der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache in Königswinter zehn Reden von bekannten PolitikerInnen herausgegriffen und sie auf ihre benutzten Begrifflichkeiten hin untersucht.
Das erste Merkmal, dass den ForscherInnen auffiel war, dass PolitikerInnen offenbar ein diffuses bis widersprüchliches Bild von Bürgern haben. Diffus, weil der Begriff „Bürger“ selten ein herausragendes Merkmal zu haben scheint - "Mensch" und "Bürger" seien fast immer synonym gebraucht worden. Widersprüchlich, weil verschiedene Perspektiven miteinander vermischt würden – mal sei der Bürger Teil des „Staates“, mal stehe er diesem hilflos gegenüber. Der Bürger sei in den Augen der Politiker einerseits ein widerspenstiges Kind, das, noch unmündig, der Anleitung bedarf und andererseits ein Versorgungsempfänger wie auch Leistungserbringer. Dieselbe Vorstellung von Bürgern als unmündigen Menschen zeige sich auch darin, dass Politiker die Menschen immer "mitnehmen" oder "abholen", als ob sie fortlaufend in Vater- oder Mutterrolle schlüpfen wollten, also in Rollen derer, die wissen, „wo’s lang geht“.
Bürger dürften außerdem nicht überfordert werden, deshalb trete die Regierung auf als Führerin, Retterin und Geberin: „Wir haben natürlich … wichtige Weichenstellungen vorgenommen … eine Kreditklemme verhindert … Familien mehr Kindergeld gegeben … eine Rekordsumme … in die Infrastruktur gesteckt“, zitiert Prof. Dr. Helmut Ebert von der Universität in Koblenz und Mitautor der Studie eine Rede Merkels.
Ein weiteres Ergebnis, dass den Wissenschaftlern auffiel war, dass es Politikern schwerfällt, im Bürger die Lösung eines Problems zu sehen. Stattdessen sehen sie ihn als Teil ihrer Probleme, was sich in den Begriffen "Steuerzahler", "Ältere", "Alleinerziehende", "Erwerbstätige", "Erwerbslose", "sozialversicherungspflichtig Beschäftigte" etc. äußere. Damit zerfalle der Bürger in die ihm aus Abteilungssicht der Ministerien zugedachte Rollenvielfalt. Da die Bürger als Menschen unpolitisch gedacht würden, reagierten diese aus Sicht der Politiker wie Kinder mit "Verdrossenheit", Apathie oder Wut.
*Verbände und Parteien sind „gut“, Bürgerinitiativen erscheinen als "suspekt"*
Für die Forscher lesen sich die Reden so, als ob die Menschen anscheinend gelobt und auch bestraft werden müssten wie Kinder zu Hause oder Mitarbeiter im Betrieb. Damit sie sich für ihr Land einsetzten, müssten sie motiviert werden. Freiwillig – so der Umkehrschluss – geschehe das offensichtlich nicht. Wenn Politiker etwa von „ehrenamtlich engagierten Bürgern“, so Joachim Gauck, sprechen, dann überwiege wieder das wohlfahrtsstaatliche Denken von „Ämtern“ – der selbstbestimmten Ehren-Arbeit müsse ein Anstrich vom fremdbestimmten „Ehrenamt“ gegeben werden. Dabei scheint es, dass Verbände und Parteien als „gute“ Personenvereinigungen, Bürgerinitiativen hingegen als "suspekt" angesehen werden. Auffallend sei auch, dass von Bürgern kaum als handelnden Menschen gesprochen werde. Die wenigen Handlungsprädikate die die Forscher fanden waren: „wählen“, „entscheiden“, „sich in Beziehung zu anderen setzen“, „sich mit ihrem Staat identifizieren“, „Verantwortung übernehmen“, „mitwirken am Ganzen“ und „Widerstand leisten“.
Fasse man die Reden zusammen, zeichnen sich nach Ebert vier große Tendenzen ab:
1:) der Bürger als Fragezeichen, d. h. als ein schwer fassbares und womöglich sich aus der Geschichte verabschiedendes Subjekt,
2.) der Bürger als widerspenstiges Kind, das belehrt und über seine eigenen Interessen aufgeklärt werden muss,
3.) der Bürger als Empfänger staatlicher materieller und immaterieller Gaben sowie als Beitragszahler für das Gemeinwohl,
4.) der Bürger als Mensch, der Freiheit fürchtet, aber Freiheit braucht, um sich und die Gemeinschaft zu entwickeln.
Die analysierten Reden stammen von Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Joachim Gauck, dem SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, dem Bundesminister des Auswärtigen Amts Dr. Guido Westerwelle, dem Bundesminister der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble sowie dem damalige Bundesminister des Inneren Dr. Thomas de Maizière und wurden zwischen 2010 und 2011 gehalten.
Autorin / Autor: Redaktion/Pressemitteilung; - Stand: 11. November 2011