Unsere Erinnerungen fliegen in den Himmel

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Über das Erinnern und Vergessen - an meinen Opa Erich

In ihrem Debütroman „Der Geschmack von Apfelkernen“ sagt Katharina Hagena: „Auch Vergessen ist eine Form des Erinnerns, weil nur wer sich erinnern kann, kann auch vergessen.‘“

Wir Menschen tendieren dazu, unser Leben bis ins kleinste Detail zu speichern, zu bewahren, zu sammeln, regelrecht zu konservieren. USB-Sticks werden mit Fotos gefüllt, um etwas zu dokumentieren, Ereignisse gefilmt, Daten zu Tausenden gespeichert. Wir Menschen haben offensichtlich panische Angst, etwas aus unserem Leben zu vergessen, und so zeichnen wir die wichtigsten Ereignisse auf. Es geht nicht mehr um eine schöne Auswahl von wertvollen Erinnerungsstücken, sondern um das regelrechte Horten von Erinnerungen. Doch warum haben wir Menschen solche Angst, etwas zu vergessen? Für uns ist Erinnern eine Art ständiges Vergewissern, dass wir leben. Denn nur wenn wir uns an bestimmte Ereignisse erinnern können, können wir gelebt haben. Heißt also vergessen, dass wir nicht ‚wirklich‘ gelebt haben? Haben wir Angst, dass unser offensichtliches ‚Leben‘ nur ein sinnfreies ‚vor-uns-hindämmern‘ ist? Brauchen wir das Erinnern als Versicherung dafür, dass wir ‚mit allen Sinnen‘ durchs Leben gegangen sind? Gibt man "erinnern" in ein Synonym-Wörterbuch ein, so findet man ‚präsent sein, lebendig sein, gegenwärtig sein‘. Ist erinnern eine Art lebendiges Sein in der Vergangenheit? Können wir nur lebendig sein, wenn wir uns an Sachen und Ereignisse erinnern?

Es geht den Menschen also darum, Erinnerungen nicht zu verlieren, weil Erinnerungen bedeuten, dass man lebendig war. Es ist eine Art Bestätigung, dass wir in der Vergangenheit lebendig waren. Soweit ist das logisch. Aber warum brauchen wir diese ständige Bestätigung? Reicht es nicht, dass wir wissen, wann wir geboren sind, und welche Lebensstufen wir hinter uns gebracht haben? Wertet es mein Leben auf, wenn ich mich an die Farbe des Kleids erinnere, das ich bei meiner Einschulung getragen habe? Vielleicht kann ich dieses Detail auch einfach getrost vergessen, es aus meiner inneren Festplatte streichen. Synonyme für vergessen sind ‚entschwinden, entschlüpfen, nicht behalten‘. Oder geht es Menschen darum, die allumfassende Kontrolle über unser Leben zu behalten? Dann wäre erinnern die Kontrolle über etwas haben, was es nicht mehr gibt, über etwas, das vergangen ist. Wir Menschen können uns anscheinend nicht damit abfinden, über etwas die Kontrolle zu verlieren – auch wenn das Ereignis oder die Sache schon längt zu Staub zerfallen ist.

Ich erinnere mich nicht mehr an alle Namen von den Puppen, die oben auf meinem Speicher liegen. Ich habe sie vergessen. Und manchmal rührt es mich zu Tränen, weil ich glaube, ich ‚verliere‘ damit einen Teil meines Lebens. Aber reicht es nicht, dass ich weiß, ich wusste sie? Verliere ich dadurch die Kontrolle über mein Leben oder merke ich, dass ich gar nicht bewusst gelebt habe? Ich finde es schwer, mir diese Frage zu stellen. Denn sie beinhaltet auch die Frage, was ein bewusstes Leben bedeutet.

Es gibt Menschen, die haben solch eine Angst vor dem Vergessen, vor einer Demenz, dass diese Menschen sich lieber das Leben nehmen, als irgendwann nicht mehr ‚Herr der Sinne‘ zu sein. Anscheinend sind die Erinnerungen mehr wert als das Leben im Jetzt, ein Leben, in dem wir neue Erinnerungen anlegen könnten. Das Leben ist also leer ohne Erinnerungen an das selbige. Ist das das eigentliche Problem? Dass wir erkennen, dass wir es zu Lebzeiten nicht geschafft haben, das Leben so zu füllen, dass es ohne Erinnerungen lebenswert bleibt?

Mein Opa Erich hatte Angst vor dem Vergessen. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nur, dass ich Angst habe, meinen Opa zu vergessen. Habe auch ich es nicht geschafft, die Zeit mit ihm so zu füllen, dass ich auf Erinnerungen nur wenig angewiesen bin? Oder machen Erinnerungen meinen Opa wieder für mich lebendig, sodass ich nicht die Kontrolle über ihn verliere? Auch ich werde meine Erinnerungen dokumentieren, damit ich weiß, dass er ein toller Opa war. Und vielleicht schaffe iches, aus den Erinnerungen ein Gefühl in meinem Inneren zu entwickeln. Eine innere, gefühlte Erinnerung. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Autorin / Autor: Sarah Ganss