Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
Der Gedanke, dass der Tod das Ende der eigenen Existenz sein könnte, ließ Thomas Beuge für einen Moment das Atmen vergessen. Der Tod kann doch nicht das Ende sein, dachte er panisch. Was ist dieses Nichts, diese Dunkelheit, von der sie alle sprechen? Man muss doch etwas fühlen, nach dem Tod, man kann doch nicht einfach... Nicht-Sein. Wozu dann das Leben? Warum kämpft man für seine Gesundheit?
Thomas Beuge hatte vor wenigen Momenten erfahren, dass er Lungenkrebs hat. Kein Arzt hatte ihm diese Diagnose mitgeteilt, sondern ein Kontrollgerät anhand seines Körperchips. Mit starrem Blick und einer Träne, die sich langsam den Weg über seine faltige Wange bahnte, ging er langsam, mit gesenktem Blick, durch seine kleine Heimatstadt. Jetzt würde alles anders werden, dachte Beuge nur. Wer steht mir jetzt noch bei, fragte er sich.
Im Herbst des Jahres 2084 wurde Thomas geboren. Auch ihm wurde gleich nach der Geburt sein ganz persönlicher Körperchip eingepflanzt. „Dieser Chip speichert deinen Gesundheitsverlauf und bekämpft Krankheiten in deinem Körper vollautomatisch. Früher haben Ärzte bei der Heilung geholfen, doch zu oft versagt“, hatte ihm seine Mutter im Alter von sechs Jahren eindringlich auf sein Nachfragen erklärt. „Der Chip befindet sich in deinem Arm, funktioniert aber besser, je höher deine Position und Anerkennung in der Gesellschaft ist. Ich bin Sekretärin eines Abgeordneten und habe mich nie beschwert, darum dient mir mein Chip beinahe ohne Aussetzer. Wenn du aber ein Bettler bist und dich zudem noch über das System beschwerst, dann wird dich der Chip nicht mehr heilen. Dein Status wird jedes Jahr im Chip-Controllcenter aktualisert. Sie beobachten dich. Ein Chipleser in öffentlichen Gebäuden gibt dir Auskunft über aktuelle Krankheiten und wie gut sie bekämpft werden. Thomas, du musst immer um deine Position kämpfen. Arbeite, um zu den Besten zu gehören. Und empöre dich nicht.“ Bei diesem Gespräch im Wohnzimmer des intelligenten Hauses hatte ihn seine zierliche, schöne Mutter mit ihrem von Sommersprossen übersäten Gesicht liebevoll gemustert. Das System funktionierte und mit ihm die Menschen.
„Und bei Kindern?“, fragte der kleine Thomas ängstlich, als hätte ihn die Mutter bei etwas ertappt.
„Die Funktionen des Chips verändern sich erst, wenn du erwachsen bist“, beruhigte ihn die Mutter und legte ihre Hand auf seine. Dann flüsterte die Mutter „Esstisch“, und die harten, vollautomatischen Stühle aus Metall, auf denen die beiden saßen, sausten von selbst in die Küche an den gedeckten Tisch.
„Und diese Punkte bei dir im Gesicht?“, fragte der kleine Thomas seine Mutter noch, als diese nach dem Essen schon ins Bad verschwinden wollte. „Ist das auch eine Krankheit? Warst du unartig?“
Therese Beuge blieb stehen und konnte für einige Momente kein Wort über die Lippen bringen. Dann schloss sie die Augen und atmete tief ein. „Weißt du, ich hatte meine Zweifel und Probleme um eine Zeit, da arbeitete mein Chip nicht gut. Ich habe für mich gekämpft, habe nicht aufgegeben und funktioniert. Dieser Chip kann uns vieles geben, aber die Angst vor dem Tod nimmt er uns nicht. Das war meine Schwäche, die Angst.“
Thomas Beuge war ein glänzender Schüler gewesen. Die traditionelle Schule war schon vor dreißig Jahren abgeschafft worden, und so lernte Thomas jeden Tag an der Heimstation von zu Hause aus. Nach einem Turbo-Studium zum Journalisten begann seine Karriere. Zunächst war er als Internetreporter in der Politik tätig gewesen und hatte geschrieben, was die Politik ihm diktierte. Doch als er sich intensiv mit dem Gesundheitswesen beschäftigt hatte, da kamen in ihm Zweifel auf. Zweifel, die nach Konsequenzen verlangten.
Und so begann Thomas Beuge nicht zu schreiben, sondern nachzudenken und über das Nachgedachte öffentlich Bericht abzulegen. Von einem „unmenschlichen, manipulativen Verfahren gegen eine soziale Gesundheitspolitik“ war da oftmals die Rede.
Dann flog er auf. Und als er letztes Jahr im Winter im Chip-Controllcenter seinen aktuellen Status erfuhr, wusste er, dass er nun keine Hilfe mehr erwarten konnte. „Ihr Chip heilt sie nicht mehr, er registriert nur noch“, hatte ihm der Assistent im Controllcenter kühl gesagt und war gegangen.
Heute nun war der Tag gekommen. Thomas Beuge war krank und hatte einen Chip in sich, der ihn vielleicht hätte heilen können, wenn er sich nicht empört hätte. Seine Mutter starb vor zwei Jahren an einem simplen Fieber, denn ihr Chip war defekt gewesen, trotz ihrem Eifer. Eine andere Behandlung war zu teuer gewesen. Rücksicht auf Schwache, Arme und Kranke? Unbekannt.
Als Thomas Beuge ein Jahr später kaum mehr atmen konnte, ging er mit einer kleinen Tasche zur „letzten Station“, wie diese Einrichtung genannt wurde. Es war der Sterberaum wie in jeder größeren Stadt. Hier kamen diejenigen zusammen, deren Chip nicht mehr wirkte, die aber in ihrer letzten Lebensphase zusammen sterben wollten, um zumindest das Gefühl zu haben, ihr Denkmal in einer Gesellschaft der Perfekten zu hinterlassen. Ärzte gab es auch hier nicht. Da war niemand, der half. Der Menschenmüll sollte sich lediglich selbst entsorgen.
Und so trat Thomas in die dunkle, trostlose Halle, in der hunderte von alten Betten standen, deren Matratzen von Menschen gewärmt wurden, die selber einer undemokratischen Gesundheitstechnik zum Opfer gefallen waren. Thomas suchte sich ein freies Bett. Der Mann neben ihm fuhr auf, als Thomas sich auf eines setzte.
„Neuer Müll?“, fragte der alte Mann. Anscheinend war er blind, schaute ins Leere.
„Neuer Menschenmüll“, bestätigte ihm Thomas nachdenklich mit starrem Blick und hustete schwer. Es tat so weh. „Ist es hier so schlimm, wie man es sich vorstellt?“, fügte er dann verzweifelt hinzu.
„Lass dir das verdammte Ding aus dem Arm reißen“, sagte der Alte und hob seinen Arm, um Thomas die große Wunde zu präsentieren, unter der sich vermutlich sein Chip befunden hatte. „Die Zeit, als die Menschen sich noch auf die alte Weise geheilt haben, muss das wahre Paradies gewesen sein. Die Krisen und politischen Konflikte haben uns in ein Zeitalter der kalten Technik geführt. So voller Fehler wie die Chips konnten diese Menschenärzte gar nicht gewesen sein.“