Wie du mich siehst
Autorin: Tahereh Mafi
Übersetzt von: Katarina Ganslandt
Eins tut dieses Buch sicher: Es regt zum Nachdenken an. Außerdem hilft es, Klischees und vorschnellen Urteilen vorzubeugen. Die Geschichte spielt wenige Jahre nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 in einer Kleinstadt in Amerika. Die Handlung beginnt damit, dass die Protagonistin Shirin und ihre Familie wieder einmal umgezogen sind und der erste Tag in der neuen High School bevorsteht. Das „Problem“ hierbei (und auch schon davor): Sie ist eine Hidschabi, was ein arabisches, umgangssprachliches Wort für ein Mädchen ist, das ein Kopftuch (Hidschab) trägt. Nicht nur von Seiten ihrer Mitschüler_innen sieht Shirin sich täglich fremdenfeindlichen Kommentaren ausgesetzt, sondern auch von Seiten der Lehrenden. Deswegen versteckt sie sich schon lange in einem Kokon aus Wut, Angst und Resignation, der ihr aber nicht immer hilft, die Bemerkungen und Taten der anderen zu ignorieren.
Ihr Rückzugsort ist die Musik, die sie heimlich ununterbrochen hört und ihr Zuhause, wo sie viel liest, näht und bastelt. Zu ihren Eltern und ihrem älteren Bruder hat sie ein gutes Verhältnis, kann mit ihnen jedoch kaum ihre Sorgen und Nöte teilen, da sich ihre Realitäten zu sehr voneinander unterscheiden. Ihrem Bruder zum Beispiel fällt es leicht, Freund_innen zu finden, er eckt kaum an, während Shirin (nicht nur durch ihre Entscheidung das Hidschab zu tragen) als Terroristin abgestempelt wird. Als ein Mitschüler plötzlich anfängt, Interesse an ihr zu zeigen, geht sie sofort in Abwehrhaltung. Gleichzeitig beginnt sie, mit ihrem Bruder und seinen Freunden ein Projekt auf die Beine zu stellen, das ihr viel bedeutet. Bald gerät ihr Weltbild ins Wanken – und nicht nur das ihre…
Die Autorin des Buches, Tahereh Mafi, verarbeitet in ihrem Roman zum Teil eigene Erfahrungen, da sie selbst nach dem 11. September starker Islamophobie ausgesetzt war und ähnliche Rückzugsorte fand wie ihre Protagonistin. Es ist erschreckend, wie beiläufig Shirin zum Teil die Beleidigungen und Demütigungen, denen sie ausgesetzt ist, erwähnt, als wären sie ganz normal. Gleichzeitig wehrt sie sich oft dagegen, was ihr jedoch häufig noch mehr Ärger einbringt. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist – auf meiner Schule waren keine Hidschabi – aber ich könnte mir schon vorstellen, dass es hier ähnlich ist, wobei in dem Buch die Hackordnung an amerikanischen High Schools noch eine besondere Rolle spielt, die in Deutschland nach meiner Erfahrung nicht ganz so extrem ist.
Trotzdem ist es erschreckend, wie engstirnig und vorurteilsbeladen eine „freie“ Gesellschaft sein kann. Selbst Personen, die es gut mit Shirin meinen, treten andauernd in Fettnäpfchen, da sie die Länder des Nahen Ostens alle auf einen Haufen werfen und Shirin ihr eigenes Bild aufdrücken wollen, ohne sie selbst zu fragen.
Es war interessant, durch Shirin die Sicht eines Einwandererkindes und einer Hidschabi einzunehmen. Wie die Protagonistin selbst sagt: „Wenn man die Welt von einer privilegierten Position aus betrachtet“, fällt es einem schwer zu glauben, wie viele „Heuchler und Rassisten“ es gibt. Es war spannend zu lesen, weshalb Shirin ein Hidschab trägt (Spoiler: Sie will damit nicht sittsamer aussehen und wird auch nicht gezwungen). Letzten Endes konnte ich ihre Beweggründe zu 100 Prozent verstehen, wobei diese Entscheidung aber sicher auch keine vollständig rationale ist. Die Liebesgeschichte war süß, aber auch ein wenig kitschig. Insgesamt ist das Buch sehr packend und eignet sich für alle, die einen Perspektivwechsel wollen, Liebesgeschichten mögen und sich gleichzeitig mit Themen wie Migration, Sexismus und Rassismus auseinandersetzten möchten.
*Erschienen bei Sauerländer*
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Autorin / Autor: Johanna - Stand: 9. Dezember 2019