Wenn ich eine Sache auf dieser Welt ändern könnte, dann wäre es die Ungleichheit. Aber wer sagt, dass ich es nicht könnte? Wer sagt, dass wir es nicht immernoch können?
Wir haben alles gesehen. Erste Welt Länder, zweite Welt Länder, dritte Welt Länder. Aber die gerechte Welt? Finden Sie nicht auch, es ist endlich Zeit für eine gemeinsame, einheitliche, einzige Welt? Zeit für eine gleichgültige Welt?
Wie es ist:
Ich werfe einen kurzen Blick ans Fenster, als mir dieser schreckliche Gedanke kommt. Aber ist er wirklich so schrecklich? Ist dieser Gedanke nicht eher mein Ausweg, meine Rettung, meine Erlösung? Ich richte meine Augen wieder auf meine Arbeit, damit bloß keinem die Idee kommt, was ich vorhabe. Jeden Tag dieselbe Arbeit. Aber heute eine sogenannte „special edition“. Ich platziere das Futter in die Sohle, damit die Schuhe besonderen Komfort haben. Immer nur das Beste für unsere Kunden. Aber wir?
Ich bedecke das Futter mit einer weiteren Schicht Sohle und ziehe die Schnürsenkel durch die Löcher. Ein weiteres Paar fertig. Ich setze die Schuhe in ein Paket und stelle sie auf den Stapel. Schnell packe ich die Materialen für das nächste Paar Schuh zusammen. Ich darf keine Minute verschwenden. Während meine Hand schon wie automatisch die Schuhe Schicht für Schicht aufbaut, schiele ich erneut ans Fenster. Ich hatte schon einige Vorgänger, die auf den selben Gedanken kamen wie ich. Es ist schwierig die Gedanken zu kontrollieren, wenn man an diesem Ort gar nichts unter Kontrolle hat. Weder meine „Freizeit“, weder meinen „Schlaf“, weder meine „Malzeit“, noch meinen „Lohn“. Vorrausgesetzt, dass die Dinge, die ich nannte, überhaupt existieren.
Ungewollt wandert mein Blick erneut ans Fenster. Wann ist der richtige Zeitpunkt? Ich muss schnell genug sein, sonst halten sie mich auf. Ich gehe den Ablauf nochmal in Gedanken durch. Ich lasse die Schuhe liegen, schleiche zur Kiste mit den Stoffen gleich neben dem Fenster, so als würde ich das Richtige für dir Schuhe suchen und dann… ehe jemand ahnt was ich vor habe, stürze ich mich aus dem Fenster. Das geht auf, das macht Sinn.
Ich schaue mich um. Jeder an seiner Arbeit. Wie viele sind wir in diesem engen Raum? Fünfzig? Hundert? Es ist so stickig und heiß wie noch nie. Das Feuer, dass wir für einige Vorgänge benötigen, erwärmt den ganzen Raum so sehr, dass ich das Gefühl habe, dass wir uns in einem Vakuum befinden. Es ist als… plötzlich höre ich ein Kreischen. Ich blicke mich um und versuche zu sehen, was passiert ist. Die meisten Arbeiter ignorieren das Geschrei und bauen die Schuhe Schicht für Schicht auf. Drei oder vier Leute haben einen Zirkel gebildet. „Meine Hand!“ Jemand hat sich verbrannt? Geschnitten? Nichts Neues! Routine. „Jeder an seine Arbeit! Wer heute hundertfünfzig Paar Schuhe erreicht bekommt Zusatzlohn!“, höre ich einen der Arbeitgeber schreien. Er kümmert sich nicht einmal um die Verletzte. Aber wann haben sie sich denn um uns gekümmert? Wir tragen weder Schutzkleidung noch Schutzmasken. Wer kümmert sich hier um unsere Gesundheit? Es geht nur um das Geld, das sie durch die Schuhe einnehmen werden. Aber welche andere Wahl haben wir denn? Meine ganze Familie musste vor Hunger sterben. Wenigsten bekomme ich hier etwas zu essen, wenn auch nur einen Krümel. Aber wie gesagt, ich bleibe hier nicht lange. Ich gehe gleich ans Fenster und dann ist alles vorbei. Dann bin ich endlich bei meiner Familie. Und genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt, denn jetzt sind alle abgelenkt. Ich schleiche mich ans Fenster, zur Kiste mit den Stoffen. Rote Stoffe, grüne Stoffe, schwarze Stoffe.
„Darf ich?“, höre ich plötzlich eine Stimme so nah an meinem Ohr, dass ich zusammenschrecke. Der Mann muss geschrien haben, denn ich habe jetzt das Gefühl, taub zu sein. Aber dann kommen langsam die Stimmen wieder zurück.
„Wir müssen mal kurz ans Fenster.“ Ich verstehe nicht. Zwei Männer in Uniform stehen neben mir und erwarten, dass ich Platz mache. Ich gehe ohne jegliche Fragen zur Seite und mustere sie neugierig. Sie haben einen Werkzeugkasten und eine zu große Tasche dabei.
„Evelyn! An die Arbeit!“ Der Arbeitgeber ermahnt mich und ich sprinte beinaheschon zu meinem Platz. Während ich mich um das Äußere des Schuhs kümmere, schiele ich erneut ans Fenster zu den Männern. Was zur Hölle machen sie da? Sie holen ein großes Netz oder besser gesagt ein Gitter aus der Tasche und schneiden es nach dem Maß des Fensters zu. Ich ahne es schon, aber ich will es nicht wahrhaben. Nach einer halben Stunde sind sie fertig und ich kann meinen Augen immer noch nicht trauen. Sie haben doch nicht ernsthaft das Fenster zugegittert?!
„Von nun an“, sagt der Arbeitgeber, „kann keiner mehr von euch aus dem Fenster springen!“ Ich glaube es nicht. Ich glaube es einfach nicht!
Aber so ist es eben. Erste Welt Länder quälen dritte Welt Länder. Und ich darf nicht einmal mehr sterben, obwohl das mein Leben ist!
Wo ist die Gleichheit dieser Welt? Wo ist Fairness? Wo ist endlich die einheitliche Welt? Wo ist die Welt, die uns alle gleich macht? Wo ist die Welt, in der jeder das bekommt, was er verdient? Gerechte Welt, wo bleibst du?
Wie es hätte sein können:
„Evelyn, es ist Zeit für eine Pause. Dein Körper ist zu 76,5% überbelastet. Du solltest dich am besten dreißig Minuten ausruhen und etwas essen und trinken.“
„Danke, WorkEasy.“ Ich verlasse meinen Platz und gehe zur Kantine. Was gibt es heute? Knödel mit Schnitzel und Salat, steht auf dem Menü. Das ist gut. Das ist lecker. Ich nehme mein Tablett und setze mich an einen der Tische. Ich bin so froh, dass ich Jemanden habe, der sich individuell um meine Gesundheit kümmert. So eine Künstliche Intelligenz kann man sich einfach nur wünschen. Nachdem sie produziert wurde, hat sich mein Leben erleichtert. Und mittlerweile ist jedes Unternehmen dazu verpflichtet für jeden seiner Arbeiter, ein WorkEasy anzuschaffen. Auf diese Weise werden die Arbeitsbedingungen unter Kontrolle gehalten und es wird sich um das Wohlergehen der Arbeiter gekümmert, damit auch die besten Produkte und Güter hergestellt werden können. WorkEasy scannt meinen Körper und schaut sich Minute für Minute meinen Zustand an. Ob ich zu überbelastet bin, zu erschöft, eine Pause brauche, Überstunden gemacht habe. Einfach alles. Klingt nach einer aufgepushten Werbung? Aber bitte!
Ich schaufle das Essen ohne Zeit für das Atmen zu lassen. Es schmeckt einfach zu köstlich. Ich blicke auf meine WorkEasy-Armbanduhr. Ich habe noch zehn Minuten. Perfektes Timing. Ich hole mir noch meine Nachspeise und dann ertönt die Nachricht auf meiner Uhr mit WorkEasys Stimme: „Du hast noch fünf Minuten, dann bist du bereit für die nächste Arbeitsrunde.“ Jedem Arbeiter wird die Malzeit individuell angepasst, je nach Anstrengung und Belastung während der Arbeit. Ich kehre wieder zurück und ziehe meine Schutzkkeidung an.
„Schön, dass du wieder das bist, Evelyn! Du hast zu 99,9% Energie, um wieder an deine Arbeit zurückzukehren. Ich hoffe das Essen hat geschmeckt.“
„Ja, war sehr lecker.“
Ich stelle das zweite Paar fertig, packe es in die Kiste, und stelle es auf den Stapel. Ich bin so froh, dass Vieles von den Maschinen erledigt wird und meine Hände nicht schmerzen müssen.
„Evelyn, du solltest eine Trinkpause einlegen, du hast heute erst 42,3% deines Zieles erreicht.“
Ich greife nach meiner Flasche und trinke sie aus. Ich war tatsächlich durstig, aber war es mir nicht bewusst. Danke, WorkEasy für die Erinnerung.
Und so vergeht die Zeit. Gegen Abend gehen die Lichter von alleine an, weil es zu dunkel wird. Eine Stunde später warnt WorkEasy mich: „Evelyn, deine Augen sind zu 84,0% belastet, soll ich für dich das Licht ein wenig dimmen?“
„Ja, bitte. Das wäre super.“
„Durch das Dimmen des Lichtes ist deine Konzentration von 55,8% auf 89,9% gestiegen. Du wirst wahrscheinlich noch zwei Stunden arbeiten können.“
Die Zeit vergeht schnell. Auch die letzten zwei Stunden sind vergangen, als WorkEasy dann letztendlich sagt: „Evelyn, du solltest am Besten morgen mit deiner Arbeit fortfahren. Deine Belastungszahl liegt bei 100%, deine Mühe bei 87,9%, deine Müdigkeit bei 92,1% und deine Fehlerquote bei 2,8%. Du hast heute die acht Stunden gefüllt und hast 32 Minuten Überstunden gemacht, da du heute früher am Arbeitsplatz erschienen bist. Je nach deinen Ergebnissen, werde ich deinen heutigen Lohn ausrechnen und auf dein Konto überweisen. Soll ich dich wie jeden Donnerstag um 6:10 Uhr wecken oder möchtest du ausschlafen und deine Überstunden verwenden?“
„Ich möchte wie immer aufgeweckt werden, die Überstunden hebe ich mir für ein anderes Mal auf.“
„Alles klar. Hast du noch Fragen?“
„Nein, danke WorkEasy. Schönen Abend!“
„Schönen Abend, Evelyn und bis morgen!“
Natürlich hätte das Arbeitsleben so ähnlich sein können, aber wer sagt, dass es nicht immernoch so sein kann? Aber die gewünschte Welt wird noch kommen. Die Welt, in der Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen wird und nicht die Menschen oder die Künstliche Intelligenz. Und wer weiß, vielleicht wird eines Tages ein WorkEasy-Gerät produziert und meine Vorstellung wird wahr. Wie gesagt: wir können es schaffen. Jetzt sagen Sie mir: Hätten Sie nicht auch am liebsten eine Welt, in der wir von der Künstlichen Intelligenz profitieren können und nicht Angst vor ihr haben müssen? Und jetzt sagen Sie mir noch eine letzte Sache: Was hält uns auf?