Zivilcourage - ein Appell zur Initiative
Ein Appell ist: Eine auffordernde, aufrüttelnde Mahnung /ein Appell an die Vernunft /man kann einen dringenden Appell an die Öffentlichkeit richten
Schlechter Ruf oder Realität?
Wenn man von einer Großstadt spricht, fallen neben dem freudigen Ausruf: Leben! Partys! Kultur! oft auch Bemerkungen über die alltäglichen Gefahren, denen man ausgesetzt ist. Gerade an den belebten Orten Berlins beispielsweise, von denen man eben noch schwärmt, passieren Zwischenfälle. Solche, die in den Nachrichten immer öfter auftauchen. Die aber eigentlich niemand hören oder sehen will. Nichts hören oder sehen zu wollen, ist genau jene verwerfliche Haltung, die der Zivilcourage entgegensteht. Doch die ist dringend notwendig. Oder?
Berlin - city of trouble?
Loswerden muss ich erst mal: so schlimm ist es nicht. Zumindest höre ich nicht jeden Tag davon. Es ist nicht so, dass ich mich nicht mehr aus dem Haus traue, die U-Bahn vermeide, nachts nicht mehr ausgehe, und bei Jugendlichen die Straßenseite wechsele. Und das, obwohl ich in der „kriminellen“ Hauptstadt Berlin wohne und mit der U7-Linie, bekanntlich einer der unsichersten, fahre. Ich gebe aber ehrlich zu: nicht immer gerne und nicht immer mit innerlich großem Sicherheitsgefühl. Nach außen hin selbstbewusst, klar, man muss sich ja nicht gleich selbst zum Opfer machen. Meine Familie lässt mich aber trotzdem nicht alleine besagte U-BahnStrecke nach 24 Uhr fahren. Sie haben diese zwar selbst seit Jahren nicht betreten und nur das Bild der Nachrichten im Kopf, die ja meist das Schreckliche betonen.
Schrecklich kriminell oder erschreckend untätig?
Doch eher bin ich besorgt, weil ich weiß, wenn es denn doch mal geschieht… nun ja. Seien wir ehrlich. Auf die bedingungslose Hilfe meiner Mitmenschen kann ich nicht bauen. Ob tagsüber oder nachts, ob grundlos oder geplant, ob im schönen Szenebezirk oder unbewohnten Straßen. Die Menschen gucken weg. Oder sie drehen die Musik in ihren Ohrstöpseln lauter. Sie fangen an, mit irgendwem zu reden, nur mit Opfer und Täter nicht. Sie verlassen den Ort des Geschehens. Oder sie gaffen - und tun nichts. Ich male hier kein schwarzes Bild. Es ist so! Und wenn man von der Ausnahme erfährt - nun, die meisten, die diese bildeten, bereuten es. Selbst verletzt, bepöbelt oder mit nachfolgenden Konsequenzen lebend. Ein tragischer Held, den man morgen wieder vergisst. Warum sind wir so traurige Geschöpfe geworden? Oder waren wir das schon immer, nur jetzt fällt diese Fehlhaltung auf? Jetzt, wo man ab und zu, immer öfter, die gegensätzliche, couragierte Einstellung bräuchte?
Warum flüchten wir vor Verantwortung?
Was uns daran hindert, einzugreifen, hat die Bundeszentrale für politische Bildung in einer empirischen Studie versucht herauszufinden. Die Journalisten des 2002 erschienen Artikels hinterfragen die Motive derjenigen, die zivilcouragiert handeln, und eben derjenigen, die sich weigern. Die Gründe der Mehrheit sind ebenso simpel wie überraschend: Identifizierung mit dem Problem der betroffenen Person, also ähnliche eigene Erfahrungen und eine engere Verbindung zu dem Opfer fördern die Bereitschaft einzugreifen. Ist einem sowohl die Person als auch deren Problem fremd, nimmt man soziale Nachteile wahr, die für einen selbst entstehen könnten, greift man nicht ein. Dabei ist Ruf, Stolz und Ehre Männern wichtiger als Frauen. Frauen formulieren ihre Beweggründe konkreter und überlegen moralischer. Trauen sich aber aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit weniger, tatsächlich aktiv zu werden. Nachdenklich macht einen die Theorie, dass Angst allein nicht ausreicht, einen voll und ganz zurück zu halten. Laut der bpb beschwert es die Aktion, verhindert sie aber nicht. Was heißt das nun für unsere Angst? Sie ist berechtigt, das stimmt. Aber ist sie nun auch ein berechtigter Grund, nichts zu tun?
Dazu, Angst nicht als Ausrede zu benutzen, regen viele unterschiedliche Institutionen an. Und aus dem Artikel der bpb geht unter anderem hervor, wieso. Denn alltägliche Zivilcourage muss sich nicht nur in Gewaltkonflikten oder akuten Ausnahmesituationen zeigen, wo es gilt mit Selbstsicherheit und Schnelligkeit konstruktiv reagieren zu können. Auch langfristige Ungerechtigkeiten wie seelische Gewalt oder Diskriminierung werden oft unterschätzt oder totgeschwiegen. Dabei kann man sich gerade in solchen Fällen zusammen tun und Hilfe suchen. Also nicht einzeln an die Öffentlichkeit treten, sondern geschlossen. Dem steht meistens eher die Angst vor andauernder Benachteiligung oder materiellen sowie den Sozailstatus einschränkenden Konsequenzen dieser Art des couragierten Agierens im Weg. Sich einzugestehen, dass das kein Grund sein darf, ist auf jeden Fall ein Anfang. Warum? Weil sich zu ducken, um nicht anzuecken, in seltenen Fällen erstrebenswert ist.
Ein weiterer Aspekt, auf den ich hinweisen mag, ist, dass nicht jeder alles initiieren muss. Wenn ich partout der Einstellung folge, dass mich fremde Probleme nichts angehen, sollte man die Augen noch weiter für sein unmittelbares Umfeld öffnen. Denn nicht immer sind Intoleranz oder Demütigung offensichtlich. Was ich persönlich eher als Grund für Inaktivität vermute ist leider, dass sich couragiert zu verhalten auch sich engagieren bedeutet. Konsequent und ehrlich. Und vielen ist diese Mühe einfach zu riskant - der verloren Zeit oder Sympathie wegen - oder zu anstrengend. Dabei wird es dank vieler Organisationen, Initiativen, der Medien und ähnlichem immer einfacher, Farbe zu bekennen.
Anstand haben, Zivilcourage zeigen!
Mit diesem Versuch eines Appells möchte ich beginnen. Mit einer auffordernden Mahnung. Wobei, Mahnung ist vielleicht das falsche Wort. Wer wird schon gerne zu einer selbstlosen Tat ermahnt? Besser formuliert: eher eine dringliche Bitte. Eine Aufrüttelung der Öffentlichkeit, an der wir alle teilhaben, statt mit Horrornachrichten, wie es nicht ablaufen sollte. Vielleicht kein Appell an die Vernunft, denn: ist es vernünftig, zwischen zwei Prügelnde zu schreiten? Jemanden, den man kaum kennt, zu beschützen? Nein. Es ist eher ein Appell an die Moral in uns, an unsere gute Erziehung, an unsere Pflicht als mögliche Vorbilder. Und es gibt definitiv immer eine Möglichkeit, vernünftig und moralisch zu handeln, also jemandem zu helfen, ohne sich selbst zu gefährden. Oder will mich jemand mit gutem Gewissen davon überzeugen, dass einer, der die Beherrschung verliert, mehr Macht hat als fünf Leute, die sich zusammenreißen, -raufen und gemeinsam Zivilcourage zeigen? Ich glaube nicht.
Um auf die Motive für das Verweigern von Hilfe einzugehen - die ja meist egoistische Motive haben -
dann sollte man auch so weiter denken. Die Situation, in der sich der Hilfesuchende befindet, kann ich nicht nachvollziehen, habe ich so nie erlebt? Gut, aber "noch". Nur, weil ich es bisher unbewusst vermieden habe, heißt es nicht, dass es mich nicht mal genauso trifft.
Die Person ist fremd, nicht mein Freund, von daher nicht mein Business? Scheint weit hergeholt, aber schon bei Facebook sehen wir, wer wen über wen kennt. Und die Wahrscheinlichkeit, dass man der Person, mit der man vermeintlich nichts zu tun hat, näher steht als man denkt, steigt.
Haltung beweisen
Somit kann es doch nicht sein, dass wir älteren Menschen einen Platz frei machen, schwerbepackten Frauen die Tür aufhalten oder Obdachlosen ein paar Taler zu werfen, und dann darauf stolz sind. Ich habe danach auch immer ein tolles Gefühl, und dieses soll ja sicher nicht verschwinden, das meine ich nicht, aber das Verwerfliche daran ist: eigentlich sollten solche Umgangsformen nichts Besonderes, sondern selbstverständlich sein. Genauso wie die Tatsache, dass ich andere Menschen so behandele, wie sie mich behandeln sollen, und jeder, der selbst mal in einer prekären Situation war, kann sagen, dass das Wegschauen und Nichtsunternehmen sicher keine nachahmenswerte, schon gar nicht wünschenswerte Haltung ist.
Besagte couragierte Haltung hat viele Facetten, kann man auf viele unterschiedliche Art und Weise einnehmen. Konkreter: wenn...
Keine Ausreden bitte!
... ich körperlich nichts ausrichten kann und genau deswegen nichts ausrichten will, hindert mich das für gewöhnlich theoretisch nicht daran, mein Handy (was heutzutage nun wirklich kaum jemand NICHT besitzt) zu zücken und den Notruf zu wählen. Hat man keine Möglichkeit? Verschwinden und jemanden aufsuchen, der diese hat. Jemand ansprechen, gezielt ansprechen, der die Kompetenzen zu haben scheint, eingreifen zu können. Pupsspray dabei haben (Pfefferspray ist verboten.) Die Wahrscheinlichkeit, angegriffen zu werden, ist heute genauso hoch wie die Möglichkeiten, diesen unbeschadet abzumindern. Und wenn nichts von alle dem ging, da man Angst hat? Wie gelähmt ist? Verständlich. Doch viel zu oft vergessen wir dabei, dass auch jede Erinnerung, jede Beschreibung des Täters, jede Aussage, die bezeugt, das Opfer war auch ein wirklich ein Opfer, zu Gerechtigkeit führen kann. Viel zu oft verlassen nicht nur die unmittelbar Beteiligten, sondern auch die Unbeteiligten, aber mit hinein Gezogenen den Ort des Geschehens - aus Scham, aus Panik. Und so weh es tun mag: Diese fehlende Aktion macht mitschuldig!
Anstupser
Sicherlich fühlt man sich oft nicht zuständig, verantwortlich oder berufen, den Engel zu spielen. Aber darum geht es nicht. Es gilt, sich seiner mitbürgerlichen Seite nicht länger in den Weg zu stellen. Sondern der Gewalt und Ungerechtigkeit entgegen. Das muss keine Robin-Hood-Ausmaße annehmen. Aber Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist. In dem bpb-Artikel wir Roman Herzog passend zitiert: "Das meiste Unrecht beginnt im Kleinen - und da lässt es sich mit Mut und Zivilcourage noch bekämpfen". Von Großkriminalität kann in Deutschland überwiegend noch nicht die Rede sein. Deswegen ist es jetzt- ab diesem Moment- wichtig, diesem Katastrophenfall entgegenzuwirken.
Gibt es nun ein Kochrezept?
Am besten ist es wohl, alle Fragen noch mal aufzugreifen. Und diese versuchen, zu beantworten. Noch besser ist, man stellt sie sich selbst. Und hinterfragt dann die Antworten, die man selbst geben würde.
Basierend auf der Recherche zu dem Bericht und eigenen Erfahrung möchte ich sagen:
Ist Zivilcourage notwendig? Ja. Schlicht, damit unsere Bevölkerung auch zivil bleibt. Oder wird.
Warum sind wir so traurige Geschöpfe geworden? Oder waren wir das schon immer? Wir hatten wohl immer diese Phasen der Asozialität. Aber jetzt werden uns deren Folgen bewusst.
Ist Angst ein berechtigter Grund gar nichts zu tun? Nein. Die gilt es zu überwinden / um zu katalysieren/ zu seinem Vorteil zu nutzen. Beziehungsweise dem des Opfers.
Gehen uns die Probleme und Konflikte anderen Menschen etwas an? Auf jeden Fall. Denn wir agieren, kommunzieren und handeln mit ihnen allen und nicht selten mischen wir uns ungefragt in fremde Angelegenheiten ein. Warum also nicht auch dann, wenn diejenigen keine Chance mehr haben, zu fragen? Besser: *gerade dann und deswegen helfen!*
Lies im Netz
Diskutiert mit über Angst, Zivilcourage, Wegschauen und Eingreifen
Autorin / Autor: genna, Bild: Lizzynet - Stand: 19. Juli 2013