Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Das Zimmer war in schummriges Licht getaucht. Die Möbel waren kaum mehr als dunkle Schatten und verschmolzen mit den Wänden. In der Mitte des Raumes stand ein großes Bett. Darauf lag ich und starrte gerade hoch zur Decke. Hier drin entsprach alles dem Gefühl, das gerade in meinem Bauch herumschwirrte, die Speiseröhre hinaufkroch und einen großen Teils meines Gehirns einnahm: Ich fühlte mich erstickt, eingeengt. Trist und grau - mein Hals war trocken und wie zugeschnürt. Zumindest war ich hier drin sicher, es war wie in einer Hülle. Bei diesem Gedanken löste ich meinen Blick von der Decke und richtete ihn hinunter auf meinen Körper, der schlaff auf der Matratze ruhte. Auch er war umgeben von einer Hülle, einer dicken Schicht aus Fett, die ich mir die letzten Monate angegessen hatte, um mich vor dem Schatten zu schützen. Ich wusste nicht, wann der gekommen war. Es hatte keinen plötzlichen Auslöser dafür gegeben, er war einfach angeschlichen, ganz langsam in jede Ritze meines Körpers gekrochen und hatte seine kalten Hände um mein Herz und meine Gedanken gepresst. Ich hatte keine Ahnung, was der Grund für sein Auftauchen gewesen war, mein Leben war früher zwar nie perfekt, aber in Ordnung gewesen! Mir schien, als wäre ich seither jeden Tag schwerer geworden und auch mein Kopf schien eine Tonne zu wiegen. Also hatte ich mich ein geigelt. Diese ganzen Probleme, die Menschen, das Chaos, die Verwirrungen: Davon hatte ich genug! Am liebsten würde ich für immer hier liegen bleiben, in dieser Starre. Hier drin war die Zeit stehen geblieben, hier gab es keine Menschen, Tag oder Nacht. Alles war hinter den Jalousien nach draußen gesperrt und genau so sollte es auch bleiben.
Plötzlich öffnete jemand ohne anzuklopfen die Tür: Meine Mutter. Ich wusste was jetzt kommen würde. „Steh auf, unternimm was, du kannst doch nicht ständig schlafen!“ Diese Gespräche langweilten mich, denn es lief immer auf dasselbe hinaus: Ich konnte sehr wohl liegen bleiben. Langsam schien sie das sogar zu verstehen. „Na gut.“, seufzte sie und dann: „Hier drin stinkt’s - grauenvoll!“ Schneller als ich etwas einwenden konnte, hatte sie den Raum durchquert und öffnete die Tür, die von meinem Zimmer hinaus auf die Veranda führte. Gleißendes Sonnenlicht fiel herein und warf einen langen, hellen Streifen auf den Fußboden. Schon war meine Mutter wieder in die Küche verschwunden und mein lautstarker Widerspruch prallte an den Wänden ab.
Ich fühlte mich gestört und nackt. Staubkörnchen tanzten im Licht. Lange Zeit versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, und nicht auf das, was draußen lag, hinter dem Spalt der geöffneten Tür. Das draußen war Leben und das konnte mir gestohlen bleiben! Vogelgezwitscher drang zu mir herein und angenehm laue Frühlingsluft, die nach Regen roch. Irgendwann fiel dennoch mein Blick auf den Garten vor unserem Haus, auf den Gehweg, die Straße. Bald musste ich mir eingestehen, dass der Ausblick mich faszinierte - wie gebannt starrte ich durch den Spalt nach draußen. Der Postbote fuhr pfeifend vorbei, eher so, als würde er eine Radtour machen und nicht arbeiten. In unserem Garten wucherten und blühten die Pflanzen, als wollten sie sich an Farbe und Prächtigkeit gegenseitig überbieten. Ein Mädchen, vielleicht so alt wie ich, joggte vorbei. Sie hatte Kopfhörer auf und ein Lächeln strahlte aus ihrem Gesicht. Sie hört bestimmt ihr Lieblingslied, überlegte ich. Vielleicht war laufen aber auch einfach ihre Leidenschaft?
Sie verschwand aus meinem Sichtfeld. Was war meine Leidenschaft? Hatte ich eine Beschäftigung? Überhaupt ein Hobby? Und wann hatte ich eigentlich das letzte Mal Musik gehört? Etwas getan? Gelebt? Der Gedanke tat unglaublich weh, nicht wie ein schneller Schnitt, sondern wie ein langsames Abziehen eines Pflasters. Ich biss mir auf die Unterlippe und hob meine eiskalten Hände. Ich drückte sie auf meine Augen, die sich heiß anfühlten und brannten. Ich war hingefallen - ja, doch das war nicht der Fehler gewesen. Ich war liegen geblieben und nicht wieder aufgestanden.
Ich wusste nicht, wie lang ich geschlafen hatte, doch als ich erwachte, erwachte der Morgen mit mir. Die Natur schien sich ins Zeug zu legen, die Vögel sangen ausgelassen und die Sonne fiel durch die immer noch geöffnete Tür zu mir herein und kitzelte mich an der Nase. Meine Augen waren ganz verklebt und plötzlich wurde mir bewusst, dass es die Tränen waren, mit denen ich mich gestern in den Schlaf geweint hatte. Jetzt kam auch die Erinnerung an den vergangenen Abend zurück. Ich hatte gespürt, wie sich ganz tief in mir drin etwas bewegt, einen Stein ins Rollen gebracht hatte. Jetzt, am neuen, frischen Morgen, fühlte ich mich wie benommen. Die Luft roch nach Veränderung und ich blickte intuitiv zu der Tür. Sie gewährte mir einen Blick auf die Welt draußen. Mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wie ein wohliger Lichtstrahl durchflutete es jeden Winkel meines Gehirns und füllte jede Ecke meines Körpers. Ich stieg aus dem Bett, schlüpfte rasch in meine rotkarierten Chucks und warf mir eine Jacke über. Dann schritt ich zur Tür, stieß sie auf und trat mit einem unglaublichen Gefühl in den gerade angebrochenen Morgen. Ich war mir sicher, so musste sich fliegen anfühlen.
Ich glaube, wir alle leben in einer eigenen Hülle. Um zu verbergen wer wir wirklich sind, bleiben wir in dem grauen, dunklen Raum zurück. Unsere Wände mögen vielleicht nicht aus Stein und Mörtel bestehen, aber aus Engstirnigkeit, Angst und Ungewissheit. Doch es gibt einen Ausgang. Man muss nur die Tür finden, den Spalt hinaus ins Leben, ihn aufstoßen und hinaustreten. Viele Menschen haben genau das geschafft. Sie sind hinausgetreten ins Licht, haben den Schatten und die Enge hinter sich gelassen und genau das macht sie glücklich, lässt sie leben.
Und jetzt war ich dran. Ich hatte stets nur existiert, nie gelebt. Da draußen, und ich war mir sicher, wartete die ganze Welt auf mich.
Autorin / Autor: Eva, 16 Jahre - Stand: 19. Mai 2010