Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
„Jetzt halt doch mal die Klappe, du undankbare Schlampe!“
„Ich bin undankbar?! Was bildest du dir eigentlich ein, verdammt noch mal? Wer hält denn den Haushalt in Stand und wer hat sich fast 20 Jahre lang sämtliche Arme und Beine ausgerissen für das Kind, während ein gewisser Jemand immer nur faul auf dem Sofa lag und einen gleichmäßigen Alkoholpegel im Blut gehalten hat!“
Emma hockte in einer Nische in der Wand, von den keifenden Erwachsenen im Zimmer nur durch eine dünne Holztür getrennt. Wahrscheinlich war hier früher mal ein kleiner Aufzug für Essen gewesen, doch jetzt war nur noch die alte Holzkiste des Aufzuges in die Wand eingelassen. Ein perfektes Versteck für jemanden wie Emma. Das Beste daran war, dass Emma an einem Wochenende, an dem ihre Eltern beide nicht zu Hause gewesen waren, die Rückseite der Kiste aufgerissen hatte und auch die Wand, die sich dahinter befunden hatte. So hatte sie einen kleinen Durchgang von ihrem Zimmer zum Wohnzimmer geschaffen, von dem nur sie selbst wusste. Es war ein Fluchtpunkt für sie, wenn sie alleine sein wollte und bis jetzt hatte sie es geschafft, dass niemand davon erfuhr.
„Was denkst du eigentlich, wer du bist?!“, schrie ihre Mutter und funkelte ihr Gegenüber wutschnaubend an.
„Halt endlich deine Klappe!“, wiederholte ihr Vater in Ermangelung anderer Argumente. Ihm waren schon vor Stunden die Ideen ausgegangen, ihre Mutter zu beleidigen. Auf jeden Fall kam Emma die Dauer des Streits wie Stunden vor. Wahrscheinlicher war, dass die beiden erst vor wenigen Minuten damit begonnen hatten, sich Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Das geschah allerdings öfter, als es Emma lieb war und deshalb verbrachte sie auch mehr Zeit in dem kleinen Loch in der Wand, als gut für sie war. Wenn ihre Eltern mal wieder stritten, verkroch sie sich dorthin und kam manchmal erst Stunden später mit rotgequollenen, verweinten Augen und einem schmerzhaften Krampf in den Beinen wieder heraus. Solche Auseinandersetzungen hatten bis jetzt immer geendet, ohne schlimmere Zwischenfälle, doch diesmal war etwas anders, dass spürte Emma ganz deutlich. Es lag eine Aggressivität in der Luft, fast greifbar. Wieder lugte sie durch den kleinen Spalt zwischen der Holztür ihres Verstecks und der Wand und sah gerade, wie ihr Vater einen Schritt nach hinten tat und so aus ihrem Blickfeld verschwand. Er war klein und hatte eine Glatze, die im Moment vor Schweiß glänzte. Ihre Mutter, einer große, dominante Frau trat an die Stelle, an der eben noch ihr Vater gestanden hatte. Sie hob die Hand und ballte sie zornig zur Faust, so fest, dass einzelne Adern hervortraten und unheilvoll bläulich schimmerten. Emma schluckte. Die Angst um ihren Vater schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte aus ihrem Versteck stürzen und sich ihrer Mutter in den Weg stellen, denn sie erkannte den Ausdruck in den Augen ihrer wütenden Mutter. Auch sie selbst hatte schon herhalten müssen, wenn ihre Mutter die Nase voll von ihrem Leben hatte. In solchen Momenten schrie sie Emma ins Gesicht, dass sie ihr nichts als Ärger gebracht hatte und dass alle besser drangewesen wären, wenn sie niemals das Licht der Welt erblickt hätte. Emma hatte nach den ersten paar Malen begonnen zu beten, Gott möge ihr helfen und wenn schon nicht Gott, dann doch irgendwer, doch sie war nie erhört worden. Sie war auch nie kräftig genug gewesen um sich hatte wehren zu können und ihr Vater war zu betrunken gewesen, um ihr zu helfen. Auch wenn er ihr nie zu Hilfe gekommen war oder sie irgendwie besonders gut behandelt hatte, so hatte er sie doch immer in Ruhe gelassen. Zwar chronisch betrunken, war er doch eine Art Ruhepol in Emmas Leben und sie wollte ihn nicht verlieren. Aber aus ihrem Versteck kommen, das wollte sie noch viel weniger, denn dann würde ihre Mutter wahrscheinlich doch eher sie wählen und an ihr ihre Wut auslassen, das war sicher. Nun trat auch ihre Mutter aus ihrem eingeschränkten Sichtfeld und Emma schob die Holztür ein kleines wenig zur Seite, um die beiden wieder in Sicht zu haben. Eigentlich wollte sie nicht sehen, was passieren würde, aber sie konnte genauso wenig wegsehen. Also linste sie wieder durch den Spalt und beobachtete das streitende Paar. Mittlerweile hatte sie das Gekeife ihrer Mutter, das im Laufe des Streits immer lauter geworden war, ausgeblendet. Plötzlich erscholl ein dumpfes Geräusch und ihr Vater schrie auf. Emma zwang sich hinzusehen und sah ihren Vater am Boden vor ihrer Mutter liegen, angstvoll zu ihr aufblickend. Dann brach ein Gewitter von harten Faustschlägen und Fußtritten über ihrem Vater aus und Emma schloss entgeistert nun doch den kleinen Türspalt. Verwirrt und verängstigt hockte sie im Dunkeln und lauschte, still vor sich hin weinend, den Geräuschen der Misshandlung. Und plötzlich vernahm sie noch etwas anderes. Ein schrilles Geräusch, das sie im ersten Moment nicht einordnen konnte. Dann wusste sie, was es war. Die Türklingel. Sie wollte aus ihrem Versteck springen und die Tür aufreißen, für wen auch immer. Doch sie traute sich nicht. Ihre Mutter drosch weiter auf ihren armen Vater ein und war wohl in eine Art Rausch gefallen, denn sie nahm die Klingel nicht wahr, obwohl nun Sturm geläutet wurde. Emma betete, sie würden einfach hinein kommen, egal wie, und diesem Alptraum ein Ende bereiten und diesmal wurde sie erhört. Nur kurze Zeit später hörte sie das klapprige Türschloss bersten und vernahm laute Schreie. Sie konnte nicht sagen, von wem, ob nun ihr Vater vor Schmerzen schrie, oder ihre Mutter vor Wut oder aber die Eindringlinge vor Überraschung. Wahrscheinlich alle. Sie wollte unendlich gerne wissen, was nun genau in dem Raum hinter der Holztür vor sich ging, doch sie war starr vor Angst und Schreck. Also begnügte sie sich mit horchen. Und plötzlich wusste sie, dass die Leute, die die Tür eingeschlagen hatten, von der Polizei kamen. Sie schloss erleichtert die Augen und registrierte befreit das Zuschnappen von Handschellen.
Autorin / Autor: Julia, 16 Jahre - Stand: 14. Mai 2010