Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
John warf einen Blick über seine Schulter. Die große alte Eichentür mit dem Messinggriff führte auf den Dachboden. Sie stand einen kleinen Spalt offen, weil er den Griff nicht anfassen konnte, um sie zu schließen. Er wollte keine Spuren hinterlassen.
Sein weißes T-Shirt war mit roten Flecken bedeckt und Blut tropfte von seinen Händen. Es war noch warm.
Wenn er sich stark konzentrierte, konnte er noch das schwache Röcheln hören, die letzten verzweifelten Atemzüge eines Menschen.
Sie hatten über ihn geredet und gelacht, die beliebten Schüler seiner High School, die Cheerleader und Sportler, nur weil er nicht so aufgesetzt war wie sie und sich nicht ihrer Hierarchie angepasst und unterworfen hatte. Er war ein Experiment für sie gewesen. Sie hatten ihn vorführen wollen wie ein Zirkustier. Sie hatte ihn vorführen wollen wie ein Zirkustier. Aber das hatte sie nun davon. Sarah hatte mit ihm gespielt – und das Spiel verloren.
John überlegte, wie lange es wohl dauerte, bis sie gefunden wurde. Dieser Teil der Schule wurde selten genutzt, weshalb es seine Zeit bräuchte bis sich der Geruch verbreitet hatte.
Der Geruch von Tod. John hatte keine Ahnung wie der Tod roch, doch er war sich sicher, dass man ihn sofort erkennen würde, erkennen musste.
Aber er musste weg von hier. Oder machte er damit nur auf sich aufmerksam, wenn er jetzt einfach verschwand? Aber irgendwann würden sie bei den Ermittlungen auf jeden Fall auf ihn stoßen und dann war es zu spät um noch abzuhauen, dann hatten sie ihn. Das hieß, wenn sie Sarahs leblosen Körper überhaupt fanden.
Es war Nacht, die langen Korridore waren dunkel und leer. Seine Schritte hallten von den Wänden wieder. Sarah hatte sich als Schulsprecherin den Schlüssel besorgt unter dem Vorwand, dass sie irgendetwas vorbereiten müsse. Sie hatte ihn gefragt, ob er auch kommen wolle, nachdem sie sich ein paar Mal zuvor in der Öffentlichkeit getroffen hatten. Eine Öffentlichkeit außerhalb der Stadt, wo sie niemand, den sie kannte, zusammen mit ihm sehen würde, wie ihm jetzt auffiel. Aber das konnte nun zu seinem Vorteil werden. Es wäre doch nett, etwas unter sich zu sein, hatte sie gesagt. Zunächst hatte er sich gewundert, doch sie schien nett und aufrichtig an ihm interessiert. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er sie schon immer bewundert. Er hatte ihr im Flur nachgesehen, wenn sie mit ihren Freunden an ihm vorbeiging, lachend, wunderschön mit ihren langen goldenen Haaren. Ihre Augen hatten immer gestrahlt, wenn sie gelacht hatte, ihre vollen, geschwungenen Lippen hatten den Blick auf ihre perfekten Zähne preisgegeben. Ihre Augen würden nie wieder so strahlen und keiner würde je wieder ihr bezauberndes Lachen hören.
Er war früher gekommen, um sie nicht warten zu lassen. Sie hatten sich auf dem Dachboden verabredet, weil sie dort etwas aus den alten Archiven heraussuchen wollte. Er war stehen geblieben, als er sie am Handy hatte reden hören. „Ja, es ist alles vorbereitet. Nein, der ahnt überhaupt nichts. Er glaubt tatsächlich, dass ich was von ihm will. Als ob ich mich mit so ’nem Freak abgeben würde, das ist echt widerlich. Ok, ich ruf dich später an. Bye.“ John hatte sich kurz zurück gezogen und war dann ein paar Minuten später in den Raum getreten, als hätte er nichts von alledem mitbekommen.
Er war schweigsam, doch das schien ihr nicht besonders aufzufallen, schließlich war er nie sehr gesprächig. Irgendwann fing sie an, ihn zu küssen, nachdem sie ihn erst scheinbar zufällig, dann immer offensichtlicher berührt hatte. Das verwirrte ihn und er schob sie immer wieder von sich. Sarah fragte ihn, was los sei. Sie griff nach seinem Hemd, wollte die Knöpfe öffnen, als er über ihre Schulter schaute und die kleine Kamera in der Ecke erblickte. Da hatte er verstanden. Sie wollten ihn vor der gesamten Schule bloßstellen. Er war so wütend geworden, hatte sich nicht mehr kontrollieren können, und sie wollte einfach nicht aufhören. Er hatte in ihre Augen geschaut, die er früher so bezaubernd fand, und nur noch Hass verspürt. Aus den Augenwinken nahm er einen alten Brieföffner auf dem Tisch wahr. Als sie ihn das nächste Mal berührt hatte, hatte er nach diesem gegriffen und in ihren Bauch gestoßen. Sie hatte geschockt aufgestöhnt, ihre Augen weiteten sich und dann fing sie an zu schreien. Das hatte ihn noch wütender gemacht. Er hatte den Brieföffner rausgezogen und erneut zugestochen, immer und immer wieder. Dabei hatte er sie angeschrien, sie solle ihren verdammten Mund halten, warum sie ihm das antue. Das Blut war unaufhörlich aus ihr herausgequollen, ihr Top war durchlöchert, sein Shirt blutdurchtränkt. Irgendwann war sie auf dem Boden zusammengeklappt. Da hatte er aufgehört, ein letztes Mal in ihr schmerzverzerrtes Gesicht geschaut und war gegangen.
Und nun ging er hier durch die leeren Korridore. Er hatte sich ihren Generalschlüssel geschnappt und war jetzt an einem der Seiteneingänge.
John würde noch ein paar Tage hier bleiben und beobachten, ob die Polizei sie fände, aber er müsste sich unauffällig verhalten. Ihre Freunde durften ihn bloß nicht sehen. Dann würde er die Stadt verlassen, vielleicht sogar das Land. Er wusste noch nicht wo er hinwollte, doch hierbleiben war ausgeschlossen. Er wischte seine Hände an dem nassen T-Shirt ab und machte die Jacke zu. Er musste nach Hause, um sich zu waschen und umzuziehen. Während seinem ganzen Rückweg konnte er ihr Gesicht nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Der Schock und die Angst, die sich in ihren feinen Zügen wiedergespiegelt hatten und schließlich die Trostlosigkeit, als die Erkenntnis eintraf, dass sie sterben würde.
John hatte immer gewusst, dass er anders war, konnte aber nie genau sagen, was es war. Er hatte schon lange so eine Ahnung, dass es auf jeden Fall nichts Gutes bedeuten konnte. Und das nicht nur, weil aus der Reihe zu tanzen in der High School gleichgestellt war mit der Hölle. Nun war diese Tür zu seiner innersten, verkorksten Seite geöffnet worden und sie würde sich nie mehr schließen lassen.
Autorin / Autor: Nicole, 18 Jahre - Stand: 15. Juni 2010