Das Indianermädchen

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

„Da ist es!“, rief  Philipp, der Stärkste und Mutigste. Die Kinder rannten zu dem alten Haus, das ganz verlassen und verkommen an der Kastanienstraße stand. Fast wirkte es ein wenig traurig, als würde es sagen wollen „Muntert mich auf! Macht mich lebendig!“
Selena hatte schon lange nicht mehr darüber nachgedacht, was Häuser und Bäume sagten. „Du bist so erwachsen geworden!“, sagten ihre Eltern oft. Dabei war sie doch erst 8! Und damit noch deutlich jünger als ihre Geschwister Philipp, Felix und Julia.
Keuchend standen nun die vier Kinder vor der brüchigen Bude mit der großen Eiche im Hinterhof.
Julia starrte auf das Haus. „Das sieht ganz schön gruselig aus!“, bemerkte sie dann beiläufig.
„Pfhh!“, machte Philipp. „Ich wette, dass es hier irgendwo einen Eingang gibt.“
Selena hatte bis jetzt alles ganz aufmerksam beobachtet und darauf geachtet, dass sie bloß niemand ansprach, doch jetzt konnte sie nicht länger schweigen. „Was ist, wenn noch jemand da drin wohnt?“
Julia winkte ab. Sie war ein typisches Mädchen, dennoch konnte man ihr einen Hauch von der Stärke eines Jungen in den Augen ansehen. „Ach Quatsch! Das Teil steht doch schon ewig leer. Seit einmal die alte Dame hier wohnte und dann plötzlich verschwand, wohnt hier niemand mehr. Aber man fand ihre Leiche.“ Julias Augen blitzten. „Im Wald. Man sagt, dass ihr Geist immer noch hier rumspuken soll.“
Felix musste schlucken. „Ich habe keine Angst vor Geistern!“, presste er mühevoll hervor.
Philipp zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Also was ist? ICH gehe jetzt los, und suche eine Tür, die nicht verschlossen ist.“
Die Anderen nickten nur und fingen dann schweigend an zu suchen. Sie fanden mehrere Türen, doch alle waren verschlossen.
Selena kämpfte sich währenddessen durch das hohe Gras an der Seite des Hauses, um nach einem Hintereingang zu schauen. Da! Sie hörte etwas! Ein Geräusch. Selena beschleunigte ihren Schritt. Endlich ging sie um die Ecke. Und da: Tatsächlich. Eine Tür. Sie war angelehnt. Eine angelehnte Tür. Selena schnappte nach Luft. „Hey!“, rief sie. „Ich habe etwas gefunden!“ Ihre Geschwister kamen angerannt.
Die Sonne hing am Horizont und schimmerte in einem warmen orange-rosa Ton. Die Farbe des Sonnenuntergangs nach warmen Hochsommertagen, wie Selena sie liebte. Sie liebte die Natur, den Geruch des frischen Grases, das friedliche Gelächter der Nachbarskinder aus dem Garten und die Bäume und alles was den Sommer und alle anderen Jahreszeiten ausmachte. Doch der Sommer, ja, der Sommer, der war doch immer noch das Schönste.
Zu viert standen sie nun wie im Halbkreis um die Tür herum und vergaßen beinahe zu atmen vor lauter Aufregung. Ein Geräusch erklang. Es war das Geräusch, das Selena vorher schon einmal gehört hatte. Es klang klagend, jammernd. Wie ein Reh beim Sterben.
Die Kinder standen da und waren so verängstigt, dass sie einander erklärten, sie würden auf keinen Fall da rein gehen. Sogar der vorlaute Philipp musste sich eingestehen, er habe Angst. Das war schon fast ein kleines Wunder. Philipps Stolz war größer als jegliche Vernunft, weit weg von der Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Das musste er lernen. Das wusste er. Er musste lernen Angst zu haben, ohne sich zu schämen. Alle hatten irgendwann einmal Angst. Und alle hatten jetzt gerade Angst.
Nur Selena nicht. Sie war anders. Sie, die als das kleine, schüchternen Mädchen galt, konnte auch einmal über ihren Schatten springen. Das tat sie jetzt. Das war ihre Chance. Ihre blauen, mandelförmigen Augen, ihr langes, glattes schwarzes Haar und ihre dunkle Haut erinnerten stark an eine Indianerin. „Selena“. Das war der Name einer griechischen Mondgöttin. Selena liebte de Mond. Er war so mystisch und magisch, verträumt und romantisch, poetisch und auch irgendwie ironisch. Ach, sie hätte tausend Adjektive für den Mond finden können.
„Ich mach’s!“, sagte sie jetzt laut. „Ich gehe jetzt da rein.“ Selena wartete gar nicht ab, was die Anderen sagten, nein, sie ging einfach los und genoss die bewundernden Blicke, die sie auf sich zog. Ihr Herz klopfte, als sie sich zwischen Tür und Türrahmen durchzwängte. Die Luft war stickig in dem Zimmer und es war sehr dunkel. Selena hustete. „Miau!“ Eine Katze! Bildete sie sich das bloß ein? Es klang so real, so nahe. Die Katze musste wirklich hier sein. Das Miauen wurde lauter, doch Selena konnte einfach nicht sehen, es war viel zu duster. Plötzlich stieß sie gegen etwas. Laut stöhnte sie auf und fiel zu Boden. Kurz darauf verschwand alles und sie war gefangen in einem unendlichen Nichts.
Stille. Lange Stille. Es kam ihr vor, als seien Jahre vergangen, als sie endlich wieder zu sich kam. Sie atmete. Sie schnupperte. Julias Parfüm. Stimmen. Miauen. Intensiver und immer intensiver und da: Ihre Augen standen offen. Sie blinzelte. Julia, Philipp, Felix und eine gefleckte Katze, die es genoss auf Julias Arm gestreichelt zu werden. Das Zimmer. Diesmal aber mit Licht. Es dauerte, bis sie erkannte, wo sie war. Hastig setzte sie sich auf und fasste sich an die Stirn. Wie lange war sie in dem Nichts gewesen?
„Selena? Bist du da? Selena!! Julia dachte schon, du wärest tot!“ Felix rückte seine Brille zurecht.
„Pschhht!“, machte Julia. Sie war die Älteste. Sie war schon 14. „Oh mein Gott! Selena, ich bin so froh, ich glaube, du warst in Ohnmacht!“
Selena blinzelte erneut. Draußen war es dunkel. „Was ist mir an den Kopf gestoßen?“
Philipp zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich die Lampe da.“ Er zeigte auf eine herabhängende antike Lampe. „Also wirklich. Na hör mal, du Geist, du, du solltest wirklich mal aufpassen, was deine Möbel angeht!“ Philipp musste grinsen, während Felix nervös den Kopf neigte.
„Mann Philipp, lass uns jetzt endlich hier raus gehen! Ich habe echt Schiss!“
Julia schrie auf. „Schaut mal! Die Katze hat ja Junge!“, kam es von der hinteren Ecke des Zimmers. Hastig standen alle auf und eilten zu Julia. Vier frischgeborene kleine Katzenbabys lagen auf der Kiste.
Selena warf ihr langes Haar zurück und bückte sich, um sie zu streicheln. Immer wenn sie Tiere anfasste, mit ihnen redete oder überhaupt mit ihnen zu tun hatte, empfand sie eine bestimmte Bindung, eine Art Gabe mit Tieren auf geheimnisvolle Weise umzugehen. Sie wusste sofort, was die Art von Tier benötigte und was nicht.
Selena atmete auf. „Das waren also die Geräusche, die wir gehört haben!“ Plötzlich musste sie lachen. Einfach nur lachen. Es war eine der Arten von Lachen, die einfach so, ohne Grund kamen. Und alle lachten mit. Sie saßen da, lachten, streichelten die Katzen. Und sie waren glücklich.
Selenas Herz klopfte. Sie spürte das weiche, warme Fell, den Staub unter ihre Fingernägeln, sie schnupperte, sie roch. Sie roch den vertrauten Geruch des Grases. Sie sah. Sie sah den Mond. Selena, die Mondgöttin. Selena, die Königin der Natur. Selena, das Indianermädchen. Und das würde sie auch immer bleiben.

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Autorin / Autor: Sophia, 13 Jahre - Stand: 15. Juni 2010