Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Lürana rannte und ihre Lungen füllten sich mit eiskalter Luft, immer und immer wieder. Sie fühlten sich an, als würden sie gleich bersten, doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Nicht stehen bleiben, dachte sie, renn weiter! Die Schritte ihrer Verfolger hallten hinter ihr auf dem Straßenpflaster wieder, donnerten so laut wie ihr eigenes Herz.
„Bleib stehen Kanakin!“ rief einer von ihnen, die Stimme voller Zorn.
Sie folgte dieser Anweisung nicht, sondern lief nur noch schneller. Aufzugeben wäre reiner Selbstmord. Entweder sie schaffte es an diesem Abend zu entkommen, oder sie würde den nächsten Morgen wahrscheinlich nicht mehr erleben. Die rassistischen Gangs in dieser Stadt kannten kein Pardon. Plötzlich wurden die Schritte hinter ihr langsamer und verklangen schließlich vollkommen. Dann hörte sie wieder eine wütende Stimme, diesmal jedoch aus einiger Entfernung.
„Irgendwann kriegen wir dich Miststück, wart´s ab!“
Mit diesen Worten in den Ohren rannte Lürana noch ein ganzes Stück weiter, bis sie in einer engen Seitenstraße stehen blieb. Die Steinwände ragten hoch neben ihr auf und Finsternis hüllte sie ein, nur durch eine geöffnete Holztür, eingelassen in eine der Wände, drang flackerndes Licht in die Gasse. Ihr Atem beruhigte sich langsam und sie begann vor Kälte zu zittern. Sehnsüchtig blickte sie auf den hellen Lichtschein, der vermutlich von einem Feuer stammte. Sie war weit gelaufen, weit fort von ihrer Wohnung und sie sehnte sich nach Wärme.
„Dir ist kalt, oder?“
Blitzschnell drehte Lürana sich um und erwartete eine weitere Gefahr, doch da stand nur eine junge Frau. Erleichtert sah Lürana, dass sie Türkin war, erkennbar an ihren braunen Augen und dem Kopftuch. Die Frau sah sie mit runter gezogenen Augenbrauen besorgt an.
„Du holst dir ja den Tod, wenn du hier weiter so stehst. Willst du nicht reinkommen?“
Lürana sah sie misstrauisch an, doch sie konnte keine Hinterlist in ihren Augen entdecken, nur ehrlich gemeinte Sorge, also nickte sie dankbar und folgte ihr durch die Tür. Sie führte in eine kleine Stube, in dem lodernd ein Kamin brannte, zwei Sessel und ein Kaffeetisch stand davor und auf dem Tisch stand heißer Tee für sie. Sie setzten sich und Lürana nahm die dampfende Tasse, die die Frau ihr anbot, mit Freude an. Eine weile tranken sie schweigend, bevor die Frau anfing zu reden.
„So, jetzt erzähl mir mal, was hast du da draußen gemacht? Diese Stadt ist in der Nacht nicht gerade ein spaßiger Ort, besonders für Leute mit Immigrationshintergrund.“
„Das habe ich auch festgestellt“ sagte Lürana und schauderte, als sie an ihre Verfolger zurückdachte. „Ich musste dringend zu einem Freund der Familie. Wir hatten noch etwas mit ihm zu regeln, denn wir brauchen noch ein paar Sachen von ihm, aber meine Eltern sind mit packen beschäftigt. Sie haben vor, mit uns wieder in unsere alte Heimatstadt in die Türkei zu ziehen, weil mein Vater dort jetzt Arbeit gefunden hat. Ursprünglich kamen wir wegen Geldsorgen hierher, aber nun wollen wir nur noch weg. Es ist einfach kein guter Ort zum Leben.“ Interessiert beugte die Frau sich vor und ihre Augen blitzten angeregt.
„Zurück in die Türkei sagst du? Wie heißt denn eure Heimatstadt?“
„Corum“, antwortete Lürana
„Das ist ja wunderbar! Mein Onkel lebt dort auch!“ Die Augen der Frau leuchteten nun regelrecht, so dass Lürana unwillkürlich anfangen musste zu lächeln. „Kannst du mir vielleicht einen Gefallen tun?“, fragte die Frau Lürana.
„Wenn ich kann.“ Lürana war nun mehr als verblüfft.
„Gib ihm bitte diesen Brief hier, es wäre schön, wenn er persönlich überbracht werden würde. Sag ihm bitte, ich habe inzwischen meinen Frieden in Deutschland gefunden.“
Lürana drehte den Brief mehrmals in den Händen und sah die Frau dann forschend an.
„War das denn früher nicht so?“
Der Blick der Frau wurde glasig und ihre Stimme klang, als wäre sie in Gedanken ganz weit fort. „Ich war auf Zwang meines Vaters hier. Immer wollte ich nur zurück, doch er ließ mich nicht. Als er dann tot war, fehlte mir das Geld für eine Rückreise. Ich habe die ganze Zeit nach Mitteln und Wegen gesucht von hier zu verschwinden. Aber das ist nun vorbei.“ Wie ein Vorhang schlossen sich die Lieder über ihren Augen. „Nun ist es mir nicht mehr wichtig. Es sind längst vergangene Träume.“
Lürana fragte sich, ob dies wirklich stimmte. Ihr erschien es nicht so, aber sie konnte nichts machen. Sie würde nicht lange genug bleiben, um mehr für diese Frau zu tun, als diesen Brief zu übergeben.
„Ich glaube, ich muss nun nach Hause, aber ich werde den Brief zustellen, versprochen“, sagte Lürana.
„Danke“, sagte die Frau. Einfach, schlicht, aber voller Bedeutung.
Lürana drehte sich draußen vor der Tür noch einmal um, bevor sie ging.
„Ich würde gern ihren Namen kennen, bevor ich verschwinde.“
„Mara Zarin“, sagte die Frau
Die Tür schloss sich nun endgültig und ließ die Gasse in Dunkelheit zurück.
Am nächsten morgen las Lürana die Zeitung. In dieser stand, dass eine junge Frau namens Mara Zarin letzten Vormittag von einer Rassistengruppe ermordet worden ist. Somit war sie an dem Abend, wo Lürana sie besuchte hatte, längst tot gewesen. Nun verstand sie, was die Frau mit den rätselhaften Worten gemeint hatte, sie habe nun endlich ihren Frieden gefunden. Lürana umklammerte den Brief in ihrer Tasche ganz fest. Es war an der Zeit, dass auch Maras Onkel davon erführ. Er muss etwas ganz besonderes sein, dachte Lürana.
Autorin / Autor: Lina, 15 Jahre - Stand: 15. Juni 2010