Obwohl es bereits später Nachmittag ist, beschließt Marie Eustmundt noch heute nach Aix-les-Bains zu fahren, um sich mit Laurens Vater zu unterhalten und das Gespräch keinen weiteren Tag aufzuschieben. Rechts blinkt noch einmal das Wasser des Lac Léman auf, dann biegt sie ab. In ihren Gedanken spinnt sie Fäden, welche die Geschehnisse verbinden. Der Fall nimmt langsam Konturen an, obwohl sie eigentlich noch nichts Konkretes vorweisen kann. Ihre Verbindungen bestehen hauptsächlich aus Vermutungen, Hypothesen und Gedanken. Diese ranken sich um die kargen Fakten.
Auf einmal kristallisiert sich ein Bild heraus. Sie sieht jetzt den Ablauf der Tat vor ihrem inneren Auge: Lauren segelt ein bisschen abseits der restlichen Segler. Ein Boot nähert sich ihr, jemand nimmt sie mit. Dieser Jemand ist der Täter. Sie ist sich sicher, dass es ein Mann ist. Warum, das weiß sie auch nicht genau. Lauren wird betäubt und in einem Auto bis auf die französische Seite des Lac Léman gebracht. Dort hat der Täter ebenfalls ein Boot, auf das er sie mitnimmt. Währenddessen wacht Lauren auf und versucht zu fliehen. Der Täter entdeckt sie. Sie wird verletzt. Was dann passiert ist, vermag Marie Eustmundt sich nicht genau vorzustellen. Entweder hat sie es geschafft, zu entkommen und irgendwie an das andere Ufer zu gelangen oder aber, und das zieht die Kommissarin eher in Erwägung, der Täter hat sie dahin gebracht, weil er annahm, dass sie tot sei. Aber wie ist es möglich, einfach spurlos auf einem See zu verschwinden, auf dem es nur so wimmelt von Motorbooten mit Trainern, Jury und Zuschauern? Sie müssen unbedingt Laurens Boot finden. Marie Eustmundt beschließt, sich nicht nur mit Peter Anesson -Laurens Stiefvater- zu treffen, sondern auch noch im Club Nautique de Voile d’Aix-les-Bains vorbeizuschauen, um einen Eindruck von dem Segelclub zu bekommen. Um dort noch jemanden anzutreffen, muss sie wahrscheinlich am nächsten Tag wiederkommen.
Sie sollte Recht behalten. Inzwischen ist es Abend. Die Segler sind alle schon in ihren Wohnwagen verschwunden oder etwas Essen gegangen und die Wettfahrtleitung hat ebenfalls bereits Feierabend gemacht. Lediglich das Gasthaus hat noch geöffnet, doch die Kommissarin verspürt keine große Lust, sich dort umzuhören.
Der Hafenmeister zeigt ihr bereitwillig den Weg zu dem Wohnmobil der Familie Rotiera. Herr Anesson öffnet die Tür und bittet die Kommissarin hinein. Diese fühlt sich stark an ihre eigene, lange zurück liegende, Segelkarriere erinnert. Ihr Vater hatte sie damals auch an alle abgelegenen Orte Europas begleitet.
Durch die freundliche Stimme des Vaters wird sie zurück in die Gegenwart befördert: „Darf ich Ihnen einen Tee oder Kaffee anbieten?“ Peter Anesson macht auf sie einen gebrochen Eindruck. Er hält sich tapfer. „Wie geht es meiner Tochter?“. Eine Pause entsteht. „Ich möchte Ihnen nichts vormachen. Sie liegt im Koma und es ist ungewiss, wann sie aufwachen wird.“ Nach einem kurzen Zögern fügt Marie Eustmundt hinzu: „Ob sie aufwachen wird.“ Sie versucht es so behutsam wie möglich zu sagen. „Darf ich Ihnen trotz alledem ein paar Fragen stellen?“.
Herr Anesson nickt benommen. „Lauren ist nicht Ihre leibliche Tochter, oder?“. „Nein. Ich habe ihre Mutter geheiratet, kurz nachdem Lauren in die erste Klasse kam. Zu ihrem Vater haben beide keinen Kontakt mehr. Aber ich denke, ich kann sagen, dass ich wie ein Vater für Lauren bin. Sie ist auf jeden Fall wie meine eigene Tochter.“ „Sie verstehen sich also gut?“. „Ja.“ Ihr Gegenüber scheint in Gedanken weit fort zu sein. „Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“. Marie Eustmundt ist sich bewusst, dass sie ihn jetzt als den richtigen Vater betrachtet. „Das war gestern Morgen, so gegen 10.00 Uhr. Ich habe ihr noch geholfen, abzulegen. Danach ist sie mit ihrer Trainingsgruppe aufs Wasser gegangen. Für 11.30 Uhr war der erste Start geplant.“ Ob dieser auch wirklich zu dem besagten Zeitpunkt stattgefunden hat, ist zu überprüfen, denkt sich die Kommissarin. „Und was haben Lauren und Sie davor gemacht?“. „Wir haben gegen 8.00 Uhr zusammen mit ein paar anderen Seglern draußen gefrühstückt. Dann habe ich abgewaschen, Lauren hat sich umgezogen. Ich bin am Wohnmobil geblieben, während sie runter zum Wasser ging, um ihr Boot aufzubauen.“ „Ist sie dann noch einmal wieder hierher gekommen?“. „Nein. Ich bin zum Hafen gegangen, um mich zu vergewissern, dass sie gut aufs Wasser kommt.“ „Und das ist sie?“. „Ja.“ „Sie wissen ja wahrscheinlich, wie solch eine Regatta abläuft. Würden Sie es für möglich halten, dass ein Segler einfach so vom Wasser verschwindet, ohne dass es jemandem auffällt?“. „So genau weiß ich nicht, wie es auf dem Wasser aussieht, aber es sind viele Motorboote da: Trainer, Begleitboote mit Eltern oder Zuschauern, Jury. Dazu kommen noch mindestens ein Start- und Zielboot und gut einhundertfünfzig Teilnehmer.“ Das hatte sie sich schon gedacht. „Ist es bei solchen Bedingungen nicht einfach, unentdeckt zu verschwinden?“. „Während der Pausen, ja, wahrscheinlich würde es da keinem auffallen, aber während der Wettfahrt? Ich denke es würde bemerkt werden, wenn sich jemand aus dem großen Feld löst. Zumal Lauren nicht freiwillig die Regattabahn verlassen hätte.“ Marie Eustmundt gibt ein ratloses „Hm“ von sich, bevor sie noch etwas anderes nachfragt: „Ist Lauren begabt? Ich meine, kann sie gut segeln?“. Ein stolzes verträumtes Lächeln legt sich auf das Gesicht des Vaters. „Ja, sie ist sehr gut. Sie hätte gewinnen können.“
Autorin / Autor: Lina Rixgens - Stand: 19. Februar 2009