Nach dem zu urteilen, was Laurens Vater ihr erzählt hat, muss der Täter Lauren in einer Pause überrascht und auf sein Boot gebracht haben. Wie er das geschafft hat, ist ihr allerdings schleierhaft. Lauren gilt als selbstbewusst, fröhlich und beliebt. Es soll aber auch ein paar Mädchen und Jungen geben, die ihr den Erfolg nicht gönnen. Zumindest, wenn Marie Eustmundt einigen von Laurens Mitseglern Glauben schenken kann. Obwohl die Kommissarin auch die Möglichkeit einer Tat aus Eifersucht in Erwägung zieht, glaubt sie nicht daran. Sie ist weiterhin davon überzeugt, dass es einen anderen Täter gibt, einen, den sie noch nicht kennt.
Am nächsten Morgen fährt sie noch einmal nach Aix-les-Bains, um im Wettfahrtbüro jemanden anzutreffen. Es ist der letzte Wettfahrttag. Der freundliche stellvertretende Wettfahrtleiter nimmt sich die Zeit, mit Marie Eustmundt zu reden. Die zwei Räume, die kurzerhand zu Büros umfunktioniert wurden, brummen wie ein Bienenstock. Die Kommissarin hat Schwierigkeiten, das nicht gerade akzentfreie Französisch bei solch einem Geräuschpegel zu verstehen.
Sie erhält einige interessante Informationen. Der erste Start fand planmäßig um 11:30 statt, der zweite um 13:09. Dabei wurde der Wind immer schwächer, bis er nach Beendigung des Rennens komplett einschlief. Knapp zwei Stunden lang haben die Segler auf Wind gewartet. Gegen 16:30 fand die letzte Wettfahrt des Tages statt, bei der um 17:34 der Letzte die Ziellinie überquerte. Die Frage nach Protokollen bezüglich des Ein- und Auslaufens der Boote verneint der kompetente Franzose, allerdings händigt er der Kommissarin die Videoaufnahmen der Starts und der Zieleinläufe des vergangenen Tages aus. Er hält es für möglich, dass während des zweistündigen Wartens auf Wind ein Boot an Land gefahren ist. Wie sich später herausstellt, ist keines im Hafen angekommen.
Allmählich wird es ruhiger. Auch der Wettfahrtleiter verlässt das Büro, in dem sich die Kommissarin seit drei Stunden die Videos des letzten Tages ansieht. Dabei stellt sie fest, dass Lauren beim dritten Zieleinlauf nicht mehr gefilmt wurde. Dafür sieht Marie Eustmundt etwas anderes: Im Hintergrund taucht, je nachdem wie die Kamera gehalten wurde, ein Motorboot auf. Es scheint zu ankern. Ungefähr fünf Minuten nach Laurens letzter Zieldurchquerung wird neben dem Motorboot die weiße Spitze eines Segels sichtbar. Dann verschwindet das Boot aus dem Blickfeld der Kamera. Als sie wieder an die Stelle zurückschwenkt, an der es sich eben noch befand, ist es weg. Dazwischen liegen 6 Minuten. Zeit genug, um ein Mädchen gegen ihren Willen auf ein Boot zu verfrachten, ihr Segelboot darauf zu verstauen und loszufahren? Die Polizeibeamtin weiß selbst, dass es sich hierbei nur um Spekulationen handelt und dass alles nichts bedeuten muss. Aber dennoch wird sie das Gefühl nicht los, dass dieses Boot etwas mit dem Verschwinden Laurens zu tun hat. Sie macht eine Kopie der Aufnahmen, bedankt sich und fährt zurück nach Genf.
Dort angekommen, beschließt Marie Eustmundt, im Krankenhaus vorbeizuschauen. Sie möchte sich nach Laurens Zustand erkundigen. Der zuständige Arzt hat erstaunlicher Weise sofort Zeit für sie. Lauren liegt immer noch im Koma. Er bestätigt ihre Vermutungen: „Es ist ungewiss, ob sie überhaupt wieder aufwachen wird.“ Die Kommissarin möchte das Mädchen sehen. Bei dem Blick durch die Glasscheibe hat sie auf einmal das Verlangen, Lauren zu erzählen, was sie über das Geschehene herausgefunden hat. Sie weiß, wie weit die Forschung über das Koma ist. Man weiß nicht, wie viel der Betroffene mitbekommt. Sie betritt den für ein Bett viel zu großen Raum. Sie erzählt ihr alles. Von dem Jungen Jean, der sie gefunden hat, über ihr Treffen mit ihrem Vater und dem Boot auf dem Video, bis zu den Worten, mit denen sie endet: „Jetzt bist du dran Lauren. Was ist davor passiert?“. Als sie Lauren den Rücken zukehrt und das Zimmer verlassen möchte, fühlt sie sich von einer enormen Last befreit, beinahe beflügelt. Sie dreht sich noch einmal um, wirft einen letzten Blick auf Lauren – und sieht, wie diese langsam die Augen aufschlägt.
Autorin / Autor: Lina Rixgens - Stand: 20. Februar 2009