Vorgestern. Ein Sommer.
Wie in Watte gepackt. Alles dumpf. Nur ein paar Gedanken kommen durch.
Sie liegt auf dem Boden, starrt an die Decke, lässt die Gedankenkonzentration, die Tango tanzen möchte, nicht in ihren Kopf. Ihr ist nicht nach Tango. Nach einem Tango-Tanz um die Frage: Was passiert heute und morgen? Ihr ist nach nichts.
Die Zeiger der Uhr drehen sich zu schnell, sodass sie nicht erkennen kann, wo sie eben noch stehengeblieben waren. Tage vergehen, doch sie bleibt stehen. Stehen im Momentum der Ungewissheit, der Angst und dem Kampf, die Gedankenberge aus ihrem Kopf zu verbannen.
Sie lässt die Erinnerung an den Donnerstag und die Nachricht in ihrem Handy, die sie dazu brachte, in dem Raum zu weinen, in dem sie nie weinen wollte und von Menschen getröstet zu werden, die zunächst nicht mal wussten, warum sie weinte, nicht in ihren Kopf.
Sie ignoriert die Erinnerungen an den Mittwoch, als sie das Gefühl hatte, Luft statt eines Menschen zu umarmen.
Sie verdrängt die Erinnerung an einen weiteren Donnerstag, an dem sie am Fenster stand und lautlos weinte, weil sie wusste, dass es der letzte Abschied gewesen war, als sie damals die Tür hinter sich zugemacht hatte, die Waage in der Hand.
Sie verscheucht die Gedanken an die Bilder, die sie in dem Saal sah, als sie Abschied nehmen musste. An die Nässe in den Gesichtern der Menschen, deren Schmerz ein ähnlicher und doch ein ganz anderer war und an das Knirschen der Erde unter ihren Füßen, als sie den Saal verließ und hinaus auf den Weg zu der letzten Ruhestätte trat.
Sie verdrängt die Gedankenkonzentration, die stetig anwächst, aus ihrem Kopf.
Sie perfektioniert es zu lächeln, auch wenn sie nicht lächeln will. Sie schafft es, Klausuren zu schreiben, auch wenn in ihren Kopf kein Lerninhalt will. Sie hält Tränen zurück, die einen zweiten Euphrat bilden wollen und ignoriert jeden einzelnen Tag, dass es mit jeder einzelnen Sekunde ein wenig mehr zu viel wird, bis sie nicht mehr kann.
Gestern. Herbst bis Frühling.
Einzelne Situationen wie das Vergessen eines bestimmten Dienstags, das Senden einer zu späten Nachricht, die Frage, ob es ihr gutgeht und das Angebot zu Reden bringen ihr Fass zum Überlaufen.
Sie weint vor Menschen, vor denen sie nie zuvor weinen wollte.
Sie spricht langsam über die Verluste, die sie erlebt hat.
Sie schickt Nachrichten, in denen sie von ihren Gefühlen erzählt und bekommt Nachrichten, in denen ihr versichert wird, dass es okay ist, Zeit zu brauchen. Es in Ordnung ist, überfordert zu sein. Es in Ordnung ist, auch Monate später zu weinen und nicht zu wissen, wie man mit dem stetig vorhandenen Loch, was von nun an immer da sein wird, umgehen soll. Langsam lässt sie zu, dass die Gedankenkonzentration wieder in ihren Kopf kommt, wird überflutet von Wellen von Emotionen, die immer mal wieder plötzlich über sie hinein brechen, sie lähmen, den Schutzmechanismus ihres Körpers in ihr auslösen möchten, ihren Kopf wieder in Watte zu packen und sich so vor der Realität zu verstecken.
Heute. Neuer Sommer.
Sie lässt sich nicht wieder in Watte packen. Sie verdrängt nicht mehr. Sie lässt zu, dass an manchen Tagen die Gedanken stärker in ihrem Kopf Tango tanzen als an anderen. Sie akzeptiert, dass sie nicht jeden Tag lächeln muss, dass sie mit Menschen über ihre Sorgen reden kann und dass es ihr hilft, dass es ihr nicht jeden Tag gut gehen muss, dass sie traurig sein darf, überall und zu jeder Zeit weinen kann und dass sie sie vermissen darf. Sie versteht, dass es keinen Zeitpunkt geben wird, an dem sie sie nicht mehr vermissen wird, denn das wird immer der Fall sein.
Morgen. Im Laufe der Zeit.
Sie weiß nun, dass sie sich nicht an die Zeiger der Uhr oder an den Rhythmus des Tangos der Gedanken in ihrem Kopf anpassen muss, sondern ihr eigenes Tempo finden wird.
Irgendwann.