„Wie geht’s dir?“, fragte meine beste Freundin. War sie das noch?
Die meisten Menschen, die einem diese Frage stellen – „Wie geht’s dir?“ – interessieren sich nicht für deine Antwort und wollen eigentlich nur eine kurze Bestätigung hören, dass alles soweit okay, nein viel mehr, dass alles soweit „gut“ ist. Damit haben sie dann ihre Pflicht getan, dich zu fragen, wie es dir geht. Und vor allem müssen sie sich nicht weiter mit dir beschäftigen, denn es geht dir ja „gut“.
Den Menschen, die es dann vielleicht doch interessiert, wie es einem wirklich geht, antwortet man dann aus Reflex mit der größten Lüge, die wir uns täglich erzählen, der Lüge, dass es uns „gut“ geht.
Wenn die Antwort schon die größte Alltagslüge, oder vielmehr die größte Lüge der zwischenmenschlichen Interaktionen ist, dann ist die Frage die verlogenste, die gestellt werden kann. Zumindest mit der Intention, dass das Gegenüber möglichst schnell „gut“ antworten soll.
Was für eine Art war diese Frage von meiner vermeintlich besten Freundin? Vermutlich sogar noch eine von der ehrlicheren Version, denn immerhin hatte sie sich ja die Pflicht, sich für mich und mein verkorkstes Leben zu interessieren, selbst auferlegt. Okay, ich hatte ihr geschrieben, dass es bei mir gerade etwas schwierig war und sie förmlich gezwungen, sich mit mir auseinander zu setzen, aber das war nicht der Punkt. Der Punkt war der, dass wir uns selbst die eine unfassbar schmerzhafte Lüge erzählt hatten, als wir uns von einander verabschiedeten. Es kann nun mal nicht immer so bleiben, wie es die letzten achtzehn Jahre war. Wir verändern uns, und sie hatte es geschafft, sich in den letzten zwei Wochen, in denen sie sich in ihrem neuen Zuhause eingelebt hatte, so sehr zu verändern, dass ich mich fragte, wie wir hatten befreundet gewesen sein können.
Sie war anders. Ich war anders. Sie hatte sich gelöst und begann sich selbst kennenzulernen, ich war zusammengebrochen unter der Last, mich selbst ertragen zu müssen, denn in mir wuchs das Gefühl der Sinnlosigkeit. Nicht, weil sie gegangen war, sondern weil mir klar geworden war, dass ich in einem Raum festsaß, dessen Wände ich in den letzten Jahren eigenhändig errichtet und dabei die Tür ausgespart hatte.
Das „Wie geht es dir?“ stand immer noch im Raum oder vielmehr hallte es in der Telefonverbindung nach.
„Alles okay soweit.“ Keine sonderlich ehrliche Antwort, aber eine, die mir ein langes Gespräch ersparte über ein Gefühl der Leere, das ich selbst noch nicht in Worte fassen konnte. War es wirklich eine Leere oder die Sinnlosigkeit, die man erst bemerkte, wenn alles um einen herum ganz still geworden war? Ich wusste es selber nicht. Freundschaften überstehen nun mal nicht alles, sie enden, sie verändern sich, denn wir verändern uns. Oder wir brechen zusammen und verlieren die Orientierung bei dem Versuch wieder aufzustehen.
„Du, wegen Besuchen kommen… das würde mir mit der Uni am besten so von Freitag bis Sonntag passen. Unter der Woche ist es mit den Vorlesungen immer so stressig und dann noch Nachbereiten… Und Mittwoch ist dann abends auch noch Sprittwoch - Mitte der Woche feiern.“
Na danke. Wer hätte gedacht, dass Vergessen so schnell geht. Oder verdrängen. Oder ausblenden.
„Das geht bei mir eher nicht, ich muss am Wochenende immer arbeiten.“ Wie du weißt, da du bis vor kurzem auch noch gearbeitet hast, am Wochenende. Und wie du weißt, da ich dir eben noch von meinem letzten Wochenende bei der Arbeit erzählt hatte. Wer von euch beiden hatte mich jetzt ausgeladen? Dein ehrliches Unterbewusstsein oder dein verändertes Ich, das ich nicht mehr kannte.
„Oh, stimmt. Du hast auch kein Wochenende mehr frei, oder?“
Du konntest es natürlich nicht sehen, aber ich schüttelte den Kopf. Ich hasste es, dass mir immer so schnell die Tränen kamen. Und ich hasste meine verräterische Stimme, die es immer sofort offenbarte, wenn mir die Tränen in die Augen stiegen.
Ich schaffte es nicht zu antworten.
„Ich komme am letzten Wochenende des Monats ja sowieso nach Hause.“
Ich blinzelte die Tränen weg. Wehe meine Stimme verriet jetzt etwas. Ich musste antworten. Die Stille war schon ungewöhnlich lang. Kein natürliches Gespräch, vor allem kein lockeres.
„Da muss ich auch arbeiten.“
Wieder eine kurze Stille, nicht so lang wie die davor, aber sie war gut zu hören, diese weitere Stille.
„Wir können uns ja danach noch treffen.“
Ich hatte mich mittlerweile so sehr an die Stille zwischen unseren Gesprächsfetzen gewöhnt, dass ich mit einer Antwort wieder nicht hinterherkam. Oder meine Stimme, die mich wieder verraten hätte. Wir beide kamen mit dem Antworten nicht hinterher.
„Hmmm.“ Für mehr hatte es nicht gereicht, denn mehr hatten meine Stimme und ich in angestrengter Zusammenarbeit nicht herausbringen können. Eine Träne lief mir in der erneuten Stille die Wange hinunter. Eine dieser perfekten Tränen, wie es sie eigentlich nur in Filmen gibt. Kein „ugly-crying-face“, keine verlaufende Mascara. Lediglich eine einzelne Träne.
Es war die längste Stille in unserem bisherigen Gespräch.
„Na dann, es wird langsam kalt. Ich gehe dann wieder rein.“
„Schönen Abend euch noch.“ – Mal keine Stille.
„Du kannst mich jederzeit anrufen, das weißt du.“
„Hmmm, ja, ich weiß.“ Diesmal hatte meine Stimme nicht versagt, dafür zog sich mein Gesicht nun doch zu einem stummen Wimmern zusammen.
Wir verabschiedeten uns. Wir hatten uns etwas mehr als zwei Wochen nicht mehr gesehen, und ich hatte das Gefühl, wir hatten uns in diesen zwei Wochen so sehr verändert, dass wir, wenn wir uns nun kennenlernen würden, nicht mehr in der Lage wären miteinander befreundet zu sein. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange wir dieses Schauspiel noch aufrechterhalten konnten.
Freundschaften, die länger als sieben Jahre halten, sind meist dazu bestimmt, ein Leben lang zu halten. Diese war es nicht.