Mein altes Ich

Wettbewerbsbeitrag von Maschinsky, 21 Jahre

Es ist gerade kurz vor Mitternacht. Ich sitze gebeugt vor dem Keyboard. Die grellen Lichter der Autos blenden mich ein wenig. Ich frage mich, wie lange ich heute noch wach werden bleibe. Doch egal wie sehr ich mich auch daran versuche zu schlafen. Es will einfach nicht. Ich kann nicht schlafen, während ich weiß, dass ich das wertvollste auf der Welt verlieren könnte. Jemand hatte mal zu mir gesagt, dass es einfach werden würde loszulassen. Ich müsste mir nur Zeit nehmen. Doch die Wahrheit ist, dass es das nicht ist. Kein Tag war einfach, und kein Tag wird jemals einfacher werden, wenn ich weiß, dass es sie nicht mehr geben wird. Die letzten Wochen waren hart. Ich will alles richtig machen. Ich will, dass es ihr gut geht. Aber jeder, den ich kenne, sagt mir, dass ich mich mit der ernüchternden Wahrheit abfinden muss, dass es keinen anderen Ausweg gibt und dass ich mich, egal wie schwer es mir auch fällt, damit abfinden muss. Gar nichts muss ich. Ich bin kein Kind mehr. Auch wenn die Welt es mir vorschreibt, dass ich gerade erst ein Teenager geworden bin. Ich glaubte, sie zu kennen. Die Welt. Dabei war ich gerade einmal 13 Jahre alt. Ich hatte weder ein anderes Land gesehen, noch hatte ich verstanden, dass sich mein Leben von einem auf den anderen Tag völlig ändern würde. Damals, als der Sommer so brennend-heiß war, dass ich glaubte an der trockenen Luft zu ersticken. Als jeder um mich herum glücklich zu sein schien und nur meine Welt dem Abgrund geneigt war. Ich konzentrierte mich auf meine Familie, schließlich hatte ich immer eine glückliche Kindheit gehabt. Ich wollte ihnen das zurückgeben, das sie mir gaben, wenn ich jemals dazu in der Lage wäre. Es ist nicht einfach, erwachsen zu werden. Vor allem nicht, wenn man die Menschen, die man liebt verliert. Ich würde meinem alten Ich gern sagen: "Das hast du gut gemacht. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.“

Wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, wird mir bewusst, dass mein Leben viel schlechter hätte laufen können. Die alten Erinnerungen fraßen mich von Tag zu Tag auf. Aber jetzt hört es auf. Ich habe keine Erinnerungen mehr. Ein Großteil meiner Jugend ist mir geblieben. Von meiner Kindheit jedoch ist kaum noch etwas übrig. Von den heißen Sommertagen und den verregneten Pausen, die viel zu großen Jacken aus den 90ern und den bunten Mandalas, an denen ich damals kläglich gescheitert war.

Mein Leben ist wie eine Zugfahrt. Ich bereise die verschiedensten Städte. Von kleinen Dörfern bis hin zur Großstadt. Mal verspätet er sich. Mal erscheint er mir etwas verfrüht. Dieser Zug hält überall und doch nirgendwo. Er richtet sich nach keinem Fahrplan. Immer wieder ändert sich die Route. Auch wenn ich bis dahin ein klares Ziel vor Augen hatte. Im Gegensatz zu anderen Eisenbahngesellschaften, wird auf dem Gleis niemals gebaut, noch gibt es einen außerplanmäßigen Halt. Unaufhörlich fährt er seine Strecke schon von Geburt an. Nicht jede Krise ist an ihm spurlos vorbeigegangen. Doch er ist unbeeindruckt davon. Seit 21 Jahren fahre ich nun schon mit diesem Zug durch das Land. Nichts hält mich auf. Ich hatte genug Zeit, mich selbst kennenzulernen. Auch wenn es manchmal ausweglos erscheint. Ich halte mich immer daran fest. Nicht mein Leben richtet sich nach diesem Zug, sondern der Zug nach meinem Leben. Ich musste erst begreifen, für mich selbst einzustehen. Jede Krise im Leben ist eine Prüfung. Wir meistern sie mal gut. Mal weniger. Aber egal, was ich auch daraus mache. Ich werde das Beste in den Dingen sehen, weil ich darauf vertraue, dass mein Zug mich nicht im Stich lässt und so mache ich weiter. Tag für Tag. Stunde um Stunde. Bis ich Etappe für Etappe abgeschlossen habe und endlich am Ziel zu sein scheine. Doch das ist nicht das Ziel. Dieser Zug fährt ewig weiter. Auch wenn ich glaube, dass meine Reise ein Ende gefunden hat. Niemals verstummt das monotone Rattern der Maschine auf den Gleisen. Immerzu ist der Zug in Bewegung. Er braucht keinen Zugführer. Weder von Strom noch von Kohle bezieht er seine Kraft. Allein meine Gedanken halten ihn in Bewegung. Konstant hält er seine Geschwindigkeit bei. Nichts hält ihn auf. Egal, was auch in dieser Welt geschieht. Dieser Zug, mein Leben, wird sich seiner Umgebung anpassen und sich so lange seinen Weg suchen, bis ich endlich ankomme.

Ich sitze noch heute an meinem Keyboard. Es schmerzt zwar immer noch, an die Vergangenheit zu denken, doch sie hat mich stark gemacht. Ohne sie wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin und was auch kommen mag, ich werde mich der Herausforderung stellen, auch wenn es hart werden wird. Ich kann stolz sein auf mein altes Ich, denn ohne das wäre ich nicht dort, wo ich heute stehe.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.