Stillstehen

Wettbewerbsbeitrag von Vanessa Viktoria Pietruschka, 19 Jahre

Polizeiwagen, Security, Spürhund. Wir sind am A*sch.
Wie wir in diese Situation gekommen sind? Fangen wir mal von vorne an.
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April. Wir saßen in meinem Schrebergarten beim kalten Wetter. Keine zehn Grad waren es draußen und so beschlossen wir uns in die Holzhütte zu setzen und rauchten. Jeden Tag saßen wir hier. Jeder von uns an völlig anderen Punkten seines Lebens. Insgesamt waren wir eine Riesengruppe, doch an jenem Tag saßen nur wir vier dort. Kilian, Jimmy, Nati und ich. Irgendwer hatte immer Zeit, um in den Garten zu kommen. Und so wurde es unser Spot. An den Wochenenden feierten wir hier; unter der Woche langweilten wir uns hier. Kleinstadtleben eben. Hier gab es sonst nichts zu tun für Jugendliche wie uns. Einer brachte Snacks mit, der andere Tabak und irgendwer kaufte Trinken. Das Schönste an der Gruppe war immer, wie gut alle zusammen harmonierten. Es gab kein „meins“, wir teilten alles miteinander.
Und so verbrachten wir den Abend im Garten, bis die Gespräche immer interessanter wurden.
„Wie würdet ihr einen Einbruch planen?“, fragte Nati.
Und genau da kam mir die Idee: „Wie wäre es, wenn wir zum Belmont-Anwesen fahren?“
„Ich könnte Derek fragen“, erwiderte Jimmy, „der kennt sich dort aus. Wir können ihn mitnehmen, wenn ihr nichts dagegen habt.“

Wir erzählten dem Rest der Gruppe nicht von unserem Plan. In den darauffolgenden Tagen fuhren Nati und ich zur Tanke, wo Derek arbeitet. Ohne Handy war der Junge schlecht erreichbar, aber er war begeistert von unserem Plan und wollte uns begleiten.
Es war schwierig einen Tag zu finden, an dem alle Zeit hatten. Wir wollten einen ganzen Tag dafür aufopfern, aber Kilian und Jimmy waren im dritten Lehrjahr ihrer Ausbildung und kurz vor den Abschlussprüfungen, Nati hatte gerade erst ihre Ausbildung begonnen, und ich war mitten im Abistress. Kurzgesagt: jeder hatte gerade genug andere Probleme in seinem Leben. Aber die Gruppe war immer noch ein Rückzugsort für uns alle.

Mitte Mai war es dann so weit. Wir machten uns auf den Weg zum circa neunzig Kilometer weit entfernten Belmont-Anwesen. Das Anwesen war ein beliebter Platz für Jugendliche. Das Haus wurde im achtzehnten Jahrhundert von einem französischen Geschäftsmann erbaut. Doch nach jener Nacht, in der ein mysteriöses Feuer den kompletten Westflügel des Anwesens in Trümmern zurückgelassen hat, steht das Anwesen leer.
Seitdem ist es Aufenthaltsort für gelangweilte Jugendliche, Obdachlose und Treffpunkt der Drogenkuriere.
Wir erreichten erst gegen vier Uhr das Dorf, in dem sich das Anwesen befand, da wir circa dreißig Minuten lang auf Nati warten mussten und Kilian noch bei seinem Cousin vorbeischauen wollte, obwohl er versprochen hatte, nüchtern zu kommen. Eigentlich absehbar. Was die Gruppe nicht beherrschte, war Pünktlichkeit. Wir parkten das Auto an einem Feldweg, um nicht für Aufsehen zu sorgen. Die letzten fünfzehn Minuten liefen wir durch die Einöde, bis wir plötzlich vor den verschlossenen Toren des Belmont-Anwesens standen. Wir verschafften uns Zutritt, indem wir auf einen Baum kletterten und so über den hohen Zaun gelangten. Es war kalt. Wir waren alle schwarz gekleidet, und der Wind pfiff durch die Blätter. Wir schlenderten durch den riesigen verwahrlosten Garten. Hier wurde lange nichts mehr getan. Ab und zu nahm sich die Kreisstadt vor, das Anwesen abzureißen und etwas Neues hier zu erbauen. Doch im Endeffekt mangelte es immer an Geld. Dies versuchte die Stadt wahrscheinlich so einzutreiben, in dem fast täglich die Polizei am Grundstück vorbeifuhr, um Bußgelder zu verteilen an die ganzen Personen, die sich unerlaubt hier aufhielten. Also auch wir.

Als die ersten Regentropfen kamen, erreichten wir den Hauseingang. Abgeschlossen. Natürlich.
Derek war Experte für verlassene Orte und zeigte uns so einen anderen Zugang durch den ersten Stock. Das Anwesen war wunderschön, obwohl es schon so alt war und sich keiner um das Haus kümmerte.
Wir spazierten durch das riesige Haus bis hin zum Westflügel. Betretungsverbot und Einsturzgefahr – genau der Nervenkitzel, nach dem ich gesucht habe. In solchen Momenten fühlte sich das Leben an, als würde die Zeit kurz stillstehen. Als wäre die Welt für einen Moment in Ordnung, und alle Probleme und Krisen wären aus der Welt geschaffen. Doch früher oder später holt einen die Realität wieder ein. Dann stellt sich mir wieder die Frage: „was nun?“ Die Schule ist fast vorbei, doch so richtig einen Plan habe ich immer noch nicht. Keiner von uns hat so richtig einen Plan. Und deshalb verstecken wir uns und verpassen die Möglichkeiten, die wir alle nur in unseren Träumen zu erwägen uns trauten, da wir zu viel Angst haben vor dem „Was, wenn?“ Und deshalb bleiben wir lieber in unserer Komfortzone, statt uns der Angst zu stellen und verpassen all diese Möglichkeiten. Und für immer wird sich uns die Frage stellen: „Was wäre gewesen, wenn?“
Eines Tages werden wir es bereuen, uns nicht getraut zu haben.

Wir liefen den Teil der Treppe hinauf, welcher noch nicht von den Flammen zerstört wurde. Die Luft wurde immer unangenehmer. Das Atmen wurde schwerer. Wir erreichten einen Saal, dessen Balkon auf den riesigen Garten gerichtet war. Wir setzen uns auf den Boden und schauten zu, wie die Sonne unterging. Wir genossen die Zeit zusammen, die wir unbeschwert so weit von zuhause miteinander verbringen konnten. Endlich abschalten von dem ganzen Stress zuhause.
Aber Kilian und Derek wollten nicht allzu lange rumsitzen, sondern machten sich auf die Suche nach Steinen, um die Fenster einzuschlagen.

Von weitem erblickten meine Augen einen Mann am Tor. Er war dunkel gekleidet und hatte eine Taschenlampe dabei. Ich konnte nicht erkennen, ob es sich hierbei um Security handelte oder ob es ein weiterer Interessent des Anwesens war, der es sich mit eigenen Augen anschauen wollte.
Vorsichtshalber machten wir einen Rückzieher und begaben uns in den Ostflügel. Gerade als wir durch ein Fenster des Saales ins Freie steigen wollten, hörten wir von draußen Stimmen. Wir alle standen still. Mit einer Handgeste symbolisierte Jimmy uns, dass wir uns auf den Boden legen sollten. So verweilten wir circa zehn Minuten bis plötzlich mehr Menschen draußen dazu kamen und jemand mit Funkgerät sprach. Die Polizei. Ich hatte keine Angst. Doch Kilian konnte sich keine weitere Anzeige erlauben, und so warf er den nächstliegenden Gegenstand, soweit es ging durch den Saal, sodass die Polizei zum anderen Eingang eilte. Nun ging es schnell. Wie als wäre es abgesprochen gewesen, standen wir alle gleichzeitig auf und rannten durch den Flur tiefer ins Haus. Die Polizeibeamten bekamen dies aber natürlich sofort mit und stiegen ins Haus ein. Noch nie bin ich so schnell gerannt. Mein Herz war am Rasen. Wir drängelten uns alle an das Fenster, durch welches Derek hinaus zu klettern versuchte – vergeblich. Er riss mich und Nati mit runter und wir landeten unsanft auf den Pflastersteinen des Gartens. Ehe ich mich umsah, stand die Polizei vor uns.
Polizeiwagen, Security, Spürhund. Wir sind am A*sch.

Doch auch als uns die Polizei in Handschellen abführte, hatte ich keine Angst. Ich hatte keine Angst vor dem Morgen. Oder was Übermorgen geschehen würde. Ich machte mir keine Sorgen über die Folgen oder über meine Zukunft. Denn alles was mir etwas bedeutete, war genau hier. Und das war die Gruppe. Solange ich Menschen um mich herum hatte, die mir die Welt bedeuteten, war mir der Rest der Welt egal. Die Welt stand still.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Vanessa Viktoria Pietruschka