In die Bibliothek einzubrechen, ist ein Kinderspiel.
Die abzweigenden Straßen sind schlecht beleuchtet und nah, aber nicht zu nah, bei weitaus beliebteren Irish Pubs, vergitterten Underground-Clubs und hippen Cocktailbars mit 80er Jahre Memorabilien gelegen. Bei ungewollter Störung könnte ich undeutlich murmeln, mich vornüberbeugen und würgende Geräusche machen, um jeden noch so neugierigen Fremden zu verjagen. Die Tatzeit auf nachts unter die Woche zu legen, wenn der gute Bürger seine Late-Night-Show schaut oder friedlich schläft, versteht sich von selbst.
Der Weg ist das halbe Ziel. Ist dieser geschafft, muss ich nur zum Hintereingang schlendern, wo beißende Gerüche aus Mülltonnen wabern und nicht ganz so erfolgreich weggeworfene Essensreste, Plastiktüten und zertretene Energy-Drink-Dosen den Asphalt säumen wie hässliche Blumen. Dort, halb versteckt hinter dem Papiercontainer, gibt es ein Fenster, das in den Keller führt.
Ich kann mit Stolz sagen, dass ich wohl der Erste war, der es entdeckt hat, der Staubdecke auf dem Glas nach zu urteilen. Viel wichtiger, ich war der Erste, der entdeckt hat, dass der Haken verrostet ist und lange schon Wolken von Abfallduft durch einen Spalt in das Gewölbe einlädt. Und ab und an auch mich.
Wer schon einmal als Kind durch einen Stacheldrahtzaun auf eine Kuhweide geklettert ist, wird nachvollziehen können, dass starker Wille und etwas Kraft manchmal reichen, um sich durch ein enges Loch zu zwängen. Ich jedenfalls, den Bauch einziehend und mit den Turnschuhen auf den gut gelegenen Stapel alter Tische nach Halt klopfend, hatte bereits bei meinem zweiten Versuch Erfolg.
Vom Keller aus führen mehrere Türen mit einfach zu knackenden Schlössern und eine Treppe in das Hauptgebäude. Mittlerweile schaffe ich es dorthin in weniger als zehn Minuten.
Bibliotheken sind Oasen leiser Konzentration, letzte Widerstandskämpfer gegen die Übermacht der sozialen Medien und spendable Retter fleißiger Studenten am Tage. Nachts sind sie Friedhöfe. So ruhig, dass das Quietschen meiner Sohlen wie Gläserklirren klingt und das Rasseln der Schlösser wie wütende Schreie.
Doch es sind nur Geister, die mich verfolgen. Wenn ich mich in die Sesselecke zwischen Abercrombie und Alcott lege und die kleine Taschenlampe hervorhole, verblassen sie. Ich begleite Inquisitoren, Barbarenkrieger und Magier oder bin Gast im Haus von Meg, Jo, Beth und Amy. Ich tauche in Welten ab, in denen Regale nicht mit Alkohol gefüllt und leer, gefüllt und leer sind, und bin, eine Seltenheit, glücklich. Denn papiergebundene Menschen können menschlicher sein als echte.
Eines Nachts jedoch schleiche ich durch Dunkelheit, vorbei an gebastelten Plakaten und aufgebahrten Bestsellern, und finde meinen Lieblingsplatz, meine Zuflucht, besetzt.
Ich schreie.
Er schreit.
Seine Taschenlampe küsst den Boden mit einem Scheppern und rollt mit flackerndem Lichttanz unter ein Regal. Er ist in Schemen gehüllt, mehr Monster als Mann, unförmige Kleidung über langen Gliedern, doch die Angst in seinen Augen ist wie meine.
„Das ist mein Platz,“ sage ich. Meine Stimme klingt gehetzt, atemlos. Und vielleicht etwas wütend.
„Dein Platz,“ wiederholt er. „Dein Platz?“
„Mein Platz.“ Ich fasse mich. In der Dämmerung sieht er nicht älter aus als ich. „Du gehörst hier nicht hin. Verschwinde.“
Er verschwindet nicht.
„Wie bist du überhaupt hier reingekommen?“
Ein nervöses Lachen, zu laut in der Friedhofsstille. „Das Fenster im Keller. Der Haken ist verrostet. Die Türschlösser sind einfach zu knacken. Ein Kinderspiel.“
„Das ist mein Fenster.“
Ich weiß, streng genommen ist es das nicht, aber ich nehme sowas persönlich. Mit erhobenem Kinn verleihe ich meinen Worten Nachdruck. „Mach das nicht nochmal.“
Er lacht, weniger nervös diesmal.
„Was kommt als Nächstes?“ Er macht eine ausufernde Geste mit den Armen. Nur die Fingerspitzen gucken aus zu langen Ärmeln hervor. „Die Bücher gehören dir auch? Das ganze Gebäude?“
„Nun ja, nein. Vielleicht irgendwann einmal. Das tut nichts zur Sache. Du weißt schon, dass das, was du machst, Einbruch ist? Das ist illegal. Ich könnte die Polizei rufen.“
„Damit sie uns beide mitnimmt?“ Mit einem Schnauben schiebt er sich aus dem Sessel und steht gemächlich auf. Sein Gesicht wird merkwürdig ernst. „Wenn ich ein Einbrecher bin, dann bist du es auch. Da kannst du dich nicht rausreden. Ob du es willst oder nicht, wir sind jetzt Bonnie und Clyde, also schlage ich vor …“ Er streckt eine Hand aus. „Frieden?“
Ich beäuge sie kritisch. „Wieso bist du hier?“
„Aus demselben Grund wie du wahrscheinlich. Um zu lesen.“ Er seufzt, nimmt die Hand herunter. „Du kannst niemandem von unserem illegalen Treffen erzählen, also kann ich ehrlich sein, schätze ich. Meine Familie ist arm und Bücher sind teuer. Mein Vater denkt, Romane sind etwas für Frauen. Das heißt, ich kann mich tagsüber hier nicht blicken lassen, wenn ich es mir nicht mit ihm verscherzen möchte.“
„Und da kam dir die Idee, einzubrechen?“
„Hast du einen besseren Grund?“
Ich erstarre. Die Geister poltern und zischen. Ich erwäge, den Kopf zu schütteln, doch etwas lässt mich zögern. Ich sage die Wahrheit. „Meine Eltern streiten sich ständig. Es ist schlimmer, wenn Wein und Bier im Haus sind. Ich …“
Meine Stimme wird zu einem Flüstern. „Ich halte das nicht aus.“
Schweigen.
„Das ist ein besserer Grund als meiner.“ Sein Blick wandert, findet meinen, kurz. „Tut mir leid.“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe immer noch Bücher. Die Bibliothek.“
„Ah, stimmt. Dein Platz, hm?“ Er macht Anstalten, wegzugehen, das Buch auf der Armlehne, so dick wie ein Ziegelstein, zusammenklappend. „Ich gehe dann wohl besser.“
Er bückt sich nach seiner Taschenlampe. In den grellen Strahlen sehe ich strubbelige Haare, platt, wo sie gegen die Polster gepresst waren, warme, menschliche Augen und geschwungene Schrift auf einem dunklen Cover.
„Warte,“ sage ich. „Was liest du da?“
„Die Elenden. Bin aber noch nicht so weit.“
„Victor Hugo. Ein Klassiker.“ Ich sehe, wo ein Taschentuch als Lesezeichen steckt und überlege, an welchem Punkt die Geschichte sein könnte. „Wenn du Waterloo überstehst, ist das Schlimmste geschafft. Danach wird das Buch richtig gut.“
Im Schein der Taschenlampe glänzen seine Zähne bei einem Lächeln. „Du musst es wissen. Das scheint nicht das erste Mal zu sein, dass du hier bist.“
„Ist es nicht.“
Als Stille uns einfängt, schwindet sein Lächeln. Ich nehme all meinen Mut zusammen und sage: „Wenn du dich dabei elendig fühlen solltest, allein zu lesen, der Sessel da ist zwar meiner, aber daneben ist ein anderer frei.“
„Von jemandem, der angeblich so viel liest, habe ich bessere Wortwitze erwartet.“
„Na ja, ich bin auch ein Einbrecher mit verkorkster Familie.“
„So ein Zufall. Da kenn’ ich noch jemanden.“
Wir grinsen uns an, wie langjährige Freunde, die sich an einen alten Witz erinnern, und die Wärme des Moments verscheucht die Geister genauso gut wie es die Bücherseiten tun. Ich strecke meine Hand aus.
„Frieden?“