Burnt Chicken Nugget

Wettbewerbsbeitrag von Laura Verena Stein, 25 Jahre

Du warst schon immer blass, aber du bist noch viel blasser geworden. Gegen das helle Blau des Krankenhausbetts siehst du aus wie ein Gespenst. Das Lila und Blau um deinen Hals blühen wie die Blumen, die wir als Kinder gesammelt haben, sie ziehen sich über dein halbes Gesicht. Deine Hände sind dünn, viel zu dünn, zerbrechlich wie Zweige unter meinen Fingern. Sie sind kalt. Ich wünschte, ich könnte sie wärmen.
Das Piepen der Krankenhausgeräte zerstört die Stille und die Illusion von Frieden, die Illusion, es wäre alles so wie immer. Deine Arme haben die gleichen Striche wie meine, wir sind von Klingen gezeichnete Zebras. Früher hatte die nur ich. Meine sind weiß, deine sind rot und frisch.
Ich hatte dich gebeten, dich angefleht, mit mir zu kommen, damit genau das nicht passiert. Ich wollte, dass dir das nicht passiert. Du wolltest mir damals nicht glauben, du dachtest, ich übertreibe, dass die blauen Flecken nicht davon kommen könnten. Ich wünschte so sehr, du hättest auf mich gehört. Nochmal lass ich dich nicht alleine.

Die Tür geht auf. Er steht im Türrahmen, die kleinen Augen wie bei einem bösartigen Schwein. Ich will ihn wegschicken. Er hat dich hierher gebracht, er hat kein Recht darauf, hier zu sein. Aber ich habe dich alleine gelassen. Ich habe es auch nicht.

"Was machst du hier?" Er ist alt geworden, seine Haare sind schütter und grau, seine Stimme ist heiser. Ich weiß nicht, wie ich früher vor ihm Angst haben konnte. Er ist erbärmlich. Aber er ist auch gefährlich. Du hast das austragen müssen. Ich hätte da sein müssen. Verdammt, ich hätte da sein müssen. Ich hätte dich nie allein lassen dürfen.

"Ich bin hier", sage ich nur. Hinter ihm steht unsere Mutter. Sie schaut wieder auf ihr Handy, als ginge sie das alles nichts an. Ihre Arme sind auch blau. Sie fällt so regelmäßig die Treppe hinunter, dass sie fast kein eigenes Zimmer mehr braucht.
Er tritt näher und stinkt nach Zigaretten, Alkohol und Schweiß. Ich muss fast würgen, der Geruch verstopft mir die Lungen wie Rauch. "Du hast keinen Platz hier", sagt er und versucht, mich an der Schulter vom Stuhl zu zerren. Seine Finger sind grob und fleischig. Es sind die Finger, die dir das angetan haben. Ich will jeden einzelnen davon brechen, aber ich bleibe nur sitzen. Ich will nicht die gleiche Sprache sprechen wie er, es würde mir die Lippen für immer verschließen. Er ruckt nochmal an mir und starrt mich an. "Du hast dich entschieden, zu gehen. Dann geh jetzt auch."

Er hat recht. Mein Gott, hat er recht. Aber ich musste gehen. Verstehst du das? Ich konnte nicht mehr, ich hätte es nicht überlebt, es hätte mich umgebracht, noch einen Tag länger in diesem grauen, mit Rauch gefüllten Haus zu bleiben. Ich habe es versucht, solange ich konnte, für dich, weil ich weiß, dass es immer einen geben muss. Aber ich konnte nicht mehr. Und jetzt, jetzt hat es dich fast umgebracht. Ich bin schuld. Ich bin schuld, verdammt, ich bin schuld. Ich habe dich zurückgelassen, mein kleines Chicken Nugget. So haben wir uns immer genannt, erinnerst du dich? Wegen des einen Videos, das wir beide so lieben.

„I love myself. Even though I look like a burnt chicken nugget, I still love myself.”

Als ich ging, hast du mir immer wieder Videos geschickt. Ich habe dir irgendwann nichts mehr zurückgeschickt. Ich hatte Angst, dass deine Angst auf mich überspringt, dass da wieder der Funke ist aus dem Haus voller Rauch.

Er zerrt wieder an mir, diesmal falle ich vom Stuhl, der fällt um, laut. Ich rapple mich auf. "Du bist hier unerwünscht. Verschwinde endlich, du Missgeburt!" Er schreit mich wieder fast an. Alles in mir will kreischen, will sich wieder im Schrank unter der Spüle verstecken und beten, nicht gefunden zu werden, nicht wieder. Aber ich zucke nicht mal. Ich schaue ihn einfach nur an. Die Streifen auf meinen Armen brennen wie vor all den Jahren. Er ist verunsichert. Er glaubt, er hat noch Gewalt über mich, aber er sieht sie nicht mehr. Er weiß nicht, dass er die immer hat und immer haben wird, seit dem Tag, an dem sich seine Hände um meinen Hals geschlossen haben. Aber das darf er auch niemals wissen, denn sonst hätte er gewonnen.

Hinter mir rascheln die Kissen. "...Nugget?" Du klingst heiser und müde, dein Hals ist roh davon, gewürgt werden, und von den Schlaftabletten. Ich weiß nicht, was von beidem dich hierhergebracht hat. Ich glaube, ich will es, ich kann es gar nicht wissen, es würde mich zerbrechen, dann hätte er auch gewonnen. Er schaut zu dir, wütend, dass du mich erkannt hast. Ich werde ihm nicht den Rücken zudrehen, wie bei einem wilden Tier.
Es hat mich beinahe dich gekostet, dein schiefes Lächeln, deine Wimpern, die fast zu lang sind für dein Jungengesicht, deine sanften Finger, die Papier zu Origami falten können, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.

"Ich nehme ihn mit." Ich weiß nicht, ob das meine Stimme ist, die da aus mir rauskommt. Ich kenne sie nicht, sie klingt wie die eines Fremden. Er setzt zu einer Erwiderung an, irgendetwas voller Beleidigungen und spitzer Splitter dessen, was von unserer Familie übrig sein könnte, aber der Arzt steht im Türrahmen. Diesmal wird meine Mutter ihn nicht abwimmeln können, dass wir nur zwei Radaukinder sind und uns gegenseitig beim Toben verletzen, weil nach meinem Auszug außer dir niemand mehr da war, der dir wehtun konnte, niemand außer dir selbst und ihm. "Ich nehme ihn mit", sage ich noch einmal, diesmal zum Arzt. "Und ich möchte Anzeige erstatten."

Ich lasse dich nicht noch einmal zurück, zurück in diesem Haus voller Rauch und Scherben, dass nie ein Zuhause war. Noch einmal lasse ich dich nicht alleine.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Laura Verena Stein, 25 Jahre