Bei jedem Schritt rascheln die trockenen Blätter unter meinen Füßen. Die herbstliche Landschaft fliegt in rasender Geschwindigkeit an mir vorbei. Eins, zwei, eins, zwei. Ein Fuß vor den anderen, nur nicht langsamer werden. Noch zwei Kilometer.
Der kalte Gegenwind macht mir Ohrenschmerzen und brennt in meiner Lunge. Mein Herz schlägt in Lichtgeschwindigkeit. Jeder Knochen, jedes Gelenk meines Körpers klagt über die Belastung, macht seinem Ärger mit Schmerzen Luft. Endlose Qualen.
Reinste Willenskraft treibt mich weiter und immer weiter. Die Stimme in meinem Kopf spricht zu mir, sagt mir, dass ich es schaffen kann. Dass ich so besser werde. Fitter. Schöner. Dass ich es tun muss, denn sonst verliere ich meinen Wert.
„Stell dich nicht so an, es sind doch nur fünf Kilometer. Jeder Rentner kann längere Strecken joggen. Du kannst das schneller.“
Ein niemals endender Monolog, doch nicht ich bin es, die da zu mir spricht.
Mein Schnürsenkel löst sich langsam, doch ich darf nicht stehen bleiben. Meine Schritte werden kürzer, unkoordinierter. Ich erhöhe die Schrittfrequenz, um mein Tempo zu halten. Nicht langsamer werden. Es ist schon kein Joggen mehr, eher ein sehr schnelles Schlurfen. Ein kleiner Ast, verborgen von den gelben und roten Blättern, gibt den Ausschlag. Ich übersehe ihn, stolpere, gerate ins Straucheln. Um mich mit den Händen abzufangen fehlt mir die Energie, also falle ich der Länge nach auf den harten, kalten Asphalt. Kurz bleibe ich liegen, eine Sekunde nur. Himmlisch. Es fühlt sich an als würde ich in meinem Bett liegen, warm und weich und gemütlich. Ich könnte auf der Stelle einschlafen, endlich mal verschnaufen und zur Ruhe kommen. Mein geschundener Körper schmerzt nach dem Sturz noch mehr, doch immerhin entspannen sich meine Muskeln kurz. Alles ist so anstrengend.
„Du ekliges Faultier. Du willst liegen bleiben? Tja, dann gibt es wohl heute kein Abendessen. Und weißt du was? Das Frühstück morgen früh streichen wir auch noch. Das hast du davon, so faul zu sein. Wer nicht gehorchen will, muss fühlen.“
Mein Blick wandert zu meiner Fitness-Uhr. Noch einen Kilometer. Ich rappele mich auf und laufe weiter, noch schneller als zuvor, um diese Sekunde der Ruhe wieder wettzumachen.
Zuhause angekommen schäle ich mich aus dem verschwitzten T-Shirt und den Sport-Leggins. In hohem Bogen landen sie im Flur und ich marschiere nackt und voller Angst ins Bad. Das Adrenalin pumpt durch meine Adern, mein Herzschlag kann sich nach dem langen Lauf auch jetzt nicht beruhigen. Die Panik lässt mich vergessen, dass meine Kraft eigentlich am Ende ist. Ich weiß was mich jetzt erwartet, was die Stimme von mir fordern wird.
Glänzendes Glas lächelt mich hämisch an. Ein Schritt nach vorn wird die Qualen der nächsten Tage bestimmen. Ich zögere, drücke den kleinen Knopf an der oberen Kante. Die Anzeige geht an, sie blinkt lustig.
„Jetzt stell dich doch endlich drauf, was kann denn schon passieren. Die letzten Tage bist du sehr brav gewesen, heute werde ich sicher zufrieden sein. Vielleicht darfst du dann morgen sogar den Sport weglassen.“
Voller Hoffnung stelle ich mich auf die Waage. Die Zahlen schwanken hin und her, bis sie sich endlich festlegen. Ein schwarzes Loch öffnet sich in meinem Kopf, Selbsthass breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Kein Gramm weniger.
„Wie hast du das denn geschafft, du nutzloses Stück Dreck? Du weißt, dass ich dir das nicht durchgehen lassen kann! In den nächsten Tagen kriegst du gar kein Essen! Das kommt davon, wenn man nicht alles gibt.“
Aber ich habe doch alles gegeben, will ich schreien. Ich kann nicht mehr, will ich ihr an den Kopf werfen. Du zerstörst mich. Doch die Stimme und ihr Hass sind stärker. Im Spiegel an der Wand betrachte ich mich von allen Seiten, drehe mich hin und her. Berühre meine Hüftknochen, an denen noch immer zu viele Fettpolster zu sehen sind. Wieso, wieso nur sehen meine Beine aus wie Baumstämme und mein Bauch, als sei ich schwanger?
Eine halbe Stunde später liege ich tatsächlich im Bett. Der Schlaf will nicht kommen, obwohl ich zu erschöpft bin, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, innerlich und äußerlich, tut so schrecklich weh. Eine bequeme Schlafposition zu finden ist schier unmöglich. Atmen fühlt sich an, als läge ein LKW auf meinem Brustkorb. Mein Magen macht Geräusche wie ein Presslufthammer, er lässt seinem Ärger freien Lauf.
Der Hunger wird immer schlimmer. Er bereitet sich überall aus, lässt mich schwach und verzweifelt zurück. Jetzt gibt es nichts mehr, was mich davon ablenkt. Und dennoch bin ich stolz, einen weiteren Tag durchgezogen zu haben.
„Morgen wirst du bestimmt abgenommen haben. Du musst einfach, das ist reine Biologie. Gut gemacht, mein braves Mädchen. Jetzt ruinier es nicht. Gib nicht nach. Du kannst das durchstehen, der Schlaf wird kommen.“
Mitten in der Nacht schießt ein rasender Schmerz durch meine gesamte linke Seite. Es fühlt sich an, als stünde ich in Flammen. In meinem Kopf machen sich tausende bunte Sterne breit, die Bettdecke ist schweißnass. Zu schwach, um aufzustehen. Zu viel Schmerz, um nach Hilfe zu rufen. Ich glaube, ich muss sterben.
Am nächsten Morgen ist der Schmerz weg, ich fühle eine große Leere. Entgegen allen Erwartungen bin ich aufgewacht. Ich lebe noch! Draußen singen die Vögel, die Sonne scheint mit aller Kraft in mein Zimmer hinein. Sie sagt dem Winter den Kampf an, lässt nicht locker. Und ich will der Stimme den Kampf ansagen. So ein schöner Tag, und ich hätte mich fast aufgegeben. Die Frage macht sich breit, was genau ich hier eigentlich mache. Woher diese Stimme kommt. Und wieso ich nach ihrer Pfeife tanze.
Mit nackten Füßen tapse ich in die Küche und nehme mir einen Apfel. Die Stimme in mir schreit, wütet, beschimpft mich. Ich würde alles ruinieren, wofür ich so hart gearbeitet hätte. Ich dürfe jetzt nicht aufgeben, wir seien noch nicht am Ziel. Sie nennt mich dumm, eklig, bemitleidenswert. Wertlos.
Was ist ihr Ziel? Der Tod? Ich will leben! Und zum ersten Mal seit Jahren ignoriere ich die Stimme. Es ist doch nur ein Apfel. Etwas in mir hat Angst, will das hier nicht tun. Noch bevor das Gefühl sich breitmachen kann, schiebe ich es weg. Hole tief Luft, beiße in den Apfel, kaue genüsslich. Noch einen Biss und noch einen. Immer schneller, immer selbstsicherer. Die Angst kann schwinden, das weiß ich jetzt.
Es ist nicht nur ein Apfel. Es ist ein erster, kleiner Schritt. Ein Anfang. Mein Anfang auf dem langen Weg zurück ins Leben.