Das Rosige Rippengefängnis

Wettbewerbsbeitrag von Marlene, 16 Jahre

Sie streicht voll Zärtlichkeit über die Knochen, als versuche sie eine Antwort in deren grotesken Gebilde zu erkennen. Sie zieht und reißt an ihnen, bricht und biegt sie zurecht. Mit sorgfältigen Schwüngen binden ihre Hände die Überlappungen mit von Dornen übersäten Rosen zusammen. Sie baut ein Gefängnis aus perlweißen Knochen um sich herum und lebt in diesem wunderschönen Schloss. Sie zupft die weichen pastellfarbenen Blüten von den Blumen ab und lässt sie Kreise drehend auf den Boden schweben.
Durch den aufbrausenden Wind tippen die Knochenteile in einem stetigen Rhythmus aufeinander. Die kahlen Rosen schwingen und die bleichen Rosenblätter wippen auf dem Boden hin und her. Sie tanzt barfüßig und auf Zehenspitzen zum stetigen Takt, den die Knochen vorgeben. Sie macht unbeschwerte, leichtfüßige Pirouetten und dreht ihre Handgelenke zum Metronom.
Bis die Wärme ihre Hände zum Erstarren bringt. Bis der aufsteigende Nebel sie sanft auf den Boden drückt. Bis die feuchte Luft die Farbe von ihrer Haut und ihren Haaren wäscht. Bis die blütenlosen Rosen wild wachsen und das Knochengestell behütend umhüllen. Bis sie keinen Ausweg mehr sieht, ihre farblosen Augen die dunkle Wand spiegeln und zuklappen. Im Traum aber hat ihr Körper nie aufgehört zu tanzen.


„Das Schloss sollte doch schön sein. Das Gefängnis sollte doch schön sein. Wieso fühlt es sich dann so hässlich an?“, denke ich als mein Körper langsam weiterstirbt

Im Krieg mit kantigen Zahlen auf einem grau leuchtenden Ziffernblatt. Im Krieg mit dem zuckrigen Geschmack von rachsüchtiger geistiger Schwäche. Im Krieg mit dem geschmacklosen Glas Wasser, weißen Tellern und kalten Sommern. Im Krieg, der meinem Körper Lebendigkeit vortäuscht, bin ich schon längst nicht mehr die Herrin über das Metronom meines Lebens.


Ein Sturm belegt die Melodie mit einem gewaltigen Crescendo. Blitze erfüllen den grauen Himmel mit leuchtenden Narben. Donner verstärkt den stetigen, leblosen Takt mit wütenden Schreien. Der Regen lässt die Rosen in kräftigen Farbvariationen wiederaufblühen und sammelt sich in den kelchartigen Blumen.

Bis Regen durch die Rosenwand gelangt und sie aufweckt. Bis ihre bunten Augen blinzelnd die Blumendecke anstarren, schockiert über das Unwetter und wissend zugleich. Doch wenn auch langsam, das Gewitter verebbt und der Himmel leert sich.
Sie steht auf. Sie ist nicht aus Magie gemacht, aber es braucht Magie um sie in Bewegung zu setzen. Im toten Takt eines um Luft ringenden Herzschlags setzt sie kantige Schritte voreinander. In lauter Stille hebt sie zögernd die Hand zur Decke und streicht mit den Fingerkuppen über die bunten Rosen. Das farbige Wasser aus der Blume perlt über ihre Fingerspitzen, über sie herab und bedeckt ihre farblose Haut mit verspielten Mustern, die aus bunten wässrigen Schlieren bestehen.

Und sie schreit.
Und ich schreie.
Wegen all der Zeit in ihrem Rosengefängnis.
Wegen all der Zeit in meinem rechnenden Kopf.
Wegen dem Unwetter, das alles vertrieb.
Wegen dem Scheinkampf, der alle vertrieb.
Und sie schreit.
Und ich schreie.
Weil ihre Stimme ihre Bitten hinausträgt.
Weil meine Stimme meine Bitten hinausträgt.
Und sie schreit.
Und ich schreie.
Weil sie sich hilfloser fühlt.
Weil ich mich stärker fühle.

Weil sie ein Teil von mir und nicht meine Zukunft geworden ist.
Weil sie ein Teil von mir und nicht meine Zukunft geworden ist.


Jetzt ist sie in meinem Rippengefängnis eingesperrt. Dort schlägt deshalb ein geflecktes Herz. Ich summe mit ihr einen Kanon aus ihrer und meiner Melodie. Sie ist schief, ungeübt, unsicher und trotzdem glaube ich Wörter zu verstehen.




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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Marlene, 16 Jahre