Kiemen
Wettbewerbsbeitrag von Svenja Volpers, 25 Jahre
„Lassen Sie los“, war der erste Satz von Herrn Professor Doktor Magnus Berg. War das etwa das Einzige, was er dazu zu sagen hatte? „Was soll ich loslassen?“ fragte ich trotzig. Meine Hände hatten sich ineinander verkrampft. Meinte er das? Ich löste sie mühsam voneinander und legte sie auf die grauen Stuhllehnen, an die sich meine Finger direkt wieder festklammerten, sodass mein Armband ins Fleisch schnitt. „Wie denn?“ fragte ich endlich. „Stellen Sie sich einen Ort vor, an dem Sie frei und allein sind. Haben Sie da etwas im Kopf?“ „Ein abgeschlossenes Badezimmer?“ „Nein, noch freier. Schließen Sie die Augen und spüren Sie in sich hinein.“ Widerwillig gehorchte ich. Ich sah nur Dunkelheit. Doch dann erinnerte ich mich. Er am Strand, ich unter Wasser. Ich in der Schwebe und um mich herum alles still. Sonnenlicht über mir, verschwommene rote Punkte unter mir und sonst nur tiefes Blau. Meine Haut weich umhüllt- „Sie sehen so aus, als hätten Sie einen Ort gefunden“, unterbrach mich der Berg. Ich öffnete die Augen und schaute meine Hände an, die nun schlaff herabhingen. „Ja, das Meer, und was bringt mir das jetzt?“, erwiderte ich. „Wer zieht Sie wieder an Land? Wer will Sie bei sich haben?“ „Mein Verlobter natürlich!“ Was für ‘ne dumme Frage. Er schaute mich wieder so durchdringend an. Ich verschränkte die Arme. Dieser Blick machte mich wahnsinnig. Ich fixierte die Knopfleiste auf seinem Norwegerpulli. „Warum, denken Sie, sind Sie eigentlich hier?“ Will der mich veräppeln? „Bei Zwangsgedanken, die tödlich sein können, muss man in Therapie. Das hat meine Hausärztin gesagt.“ „Können Sie sich an den Zeitpunkt erinnern, als diese angefangen haben?“ „Nein.“ Doch. Blitz im Kopf. Gischt prallt auf die Felsen. Ich stehe auf der Klippe und sehe in den Abgrund. Noch ein Schritt weiter und ich bin da. Ich will springen. Ich könnte. Aber etwas jemand hält mich zurück. „Doch“, antwortete ich schließlich leise, „in unserem Urlaub in Madrid vor drei Wochen.“ Ich wollte eigentlich nach Kopenhagen. „Geht das noch ein bisschen genauer?“, bohrte er weiter. „Es ist alles so verschwommen!“ Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Schließen Sie nochmal die Augen und versetzen Sie sich in die Situation zurück.“ Wenn es denn sein musste… Ich höre meinen Namen und komme aus dem Meer. Er läuft mir mit meinem weißen Kleid über dem Arm entgegen. „Wirf‘ dir das über, ich will mit dir zu den Second-Hand-Ständen.“ Während ich mir meine Schwimmflossen ausziehe, mustert er mich. „Deine Ichthyose wird immer besser.“ Ich lächle ihn an und zwänge mich in das Kleid. Es saugt sich an meiner Haut fest und wird stellenweise transparent. Wir schlendern über die Strandpromenade. Hand in Hand. Ineinander verwoben. Verflochten. Verklebt. Er führt mich /zieht mich /reißt mich zum Schmuckstand. Der perlmuttschimmernde Kamm gefällt mir. Er entscheidet sich für ein Armband mit roten Korallen. Krallen. Rot für die Liebe. Wut. Blut. Entgrenzung. „Passend zu deinem Haar“, sagt er und klemmt mir eine Strähne hinters Ohr. Er bezahlt, greift mein Handgelenk, zieht es mir an und verschließt es. Es sitzt zu eng. Auf meinem Unterarm spüre ich noch rote Halbmonde auf der weißen Haut. „Danke“, sage ich tonlos. „Das ist mein Verlobungsgeschenk für dich.“ Dieser Satz zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Meine Beine geben nach. Bevor ich falle, fängt er mich auf und trägt mich zur nächsten Bank. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Hast du aber. Du hast mich gar nicht gefragt, ob ich will. Endlich will mich mal jemand, so richtig, mit Haut und Haar. Für immer, bis dass der Tod uns scheidet. Und ich falle fast in Ohnmacht! Was stimmt nicht mit mir? Ich versuche, die passenden Worte zu finden. „Alles gut. Ich habe nur nicht gewusst, dass du mich so sehr liebst.“ Er nimmt meinen tauben Körper ganz fest in die Arme. Ich krieg‘ keine Luft. Ich drifte ab und sehe mir zu, wie ich von einer Klippe hinunterstürze, spüre, wie ich aufschlage, einsinke, Wellen über mir zusammenbrechen, wie ich untergehe, Salz schmecke und tief ausatme. Wie kann ich es wagen, gerade jetzt an so was zu denken? Ich schüttelte mich. „Das erste Mal kamen die Gedanken, kurz nachdem ich das Korallenarmband und den Heiratsantrag bekommen habe.“ Das war eher ein Heiratsbeschluss. „Würden Sie mir dann bitte mal ihr Armband geben?“ „Wieso denn das?“ „Einfach, damit Sie merken, wie es sich ohne anfühlt.“ Zögerlich machte ich den Verschluss auf und reichte es ihm. Ich schaute auf den Abdruck, den es auf meinem Handgelenk hinterlassen hatte. Es fühlte sich ungewohnt an. Unvollständig, leer, befreit. „Gleich ist unsere Stunde rum. Ihre letzte Aufgabe für heute lautet, nochmal zu Ihrem Lieblingsort zurückzukehren und nachzuspüren, ob sich etwas in Ihnen verändert hat.“ Ich tat, was er sagte. Ich bin wieder Unterwasser und blicke nach unten. Das Korallenarmband liegt auf dem Grund des Meeres und wird vom Sand begraben. Ich schwimme in der Schwerelosigkeit. Dann löse ich mich langsam in Meeresschaum auf. Und lass‘ los.
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Verwandelbar - Die Lesung
Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.
Autorin / Autor: Svenja Volpers, 25 Jahre