Whomm! – panisch schreckte ich aus eine Albtraum hoch, in meinen Ohren hallt der alles zerstörende Knall noch nach und ein Schweißfilm glänzt auf meiner Stirn.
Es dauert einige Minuten bis ich meine Atmung kontrollieren und die Umgebung wieder wahrnehmen kann.
Die Nacht ist finster, kaum Sterne scheinen durch die Wolken und die Luft ist schwül. Dafür ist die Mauer, hinter der ich mich zum Schutz vor Wind und den Blicken der anderen zum Schlafen gelegt habe, angenehm kühl. Ich fahre mit den Fingern darüber und einzelne Steinchen und Mörtel bröckeln heraus.
Auch diese Mauer beginnt langsam zu zerfallen; an einigen Stellen haben sich bereits Wurzeln von Bäumen und Sträuchern durch das Bauwerk geschlagen – die Natur nimmt sich wieder, was einmal ihr war.
Aber das ist gut so, denn – „Kannst du nicht schlafen?“ Mein Bruder steht am Fußende meiner Matratze, bekleidet nur mit einer mittlerweile sehr zerschlissenen Hose und mustert mich besorgt.
Ich schüttele leicht den Kopf und lasse einen Grashalm, der neben meiner Matratze wächst, durch die Finger gleiten; „Albtraum.“
Noah seufzt und setzt sich zu mir. „Der gleiche wie immer?“ Ich nicke und lehne den Kopf an seine Schulter. Er legt einen Arm um mich, zieht mich an sich und flüstert mir zu, dass das alles vorbei ist, dass wir das alles nie wieder erleben werden und dass ich davor keine Angst haben brauche.
Das hat er mir schon so oft gesagt. Anfangs jede Nacht. Aber noch immer fällt es mir schwer, ihm zu glauben. Gerade weil ich weiß, dass auch er nicht so sorglos denkt. Er will stark sein; für mich, für Mama und die anderen. Aber ich weiß, dass auch er Angst hat. Dass auch er fürchtet, noch eine Pandemie mit einem neuen Virus breche aus und befalle die Menschheit, wie in den 2020er Jahren. Oder dass die großen Mächte erneut einen Krieg in Europa beginnen. Denn, sind wir ehrlich; das ist nur eine Frage der Zeit!
Begonnen hat alles mit dem Krieg in der Ukraine, später in Russland und schließlich auf dem gesamten Kontinent.
Nachdem man in Italien nach Jahren der Angst und Zerstörung schließlich die erste Atombombe gezündet hatte, flohen viele; auf die andere Seite des Balkans, nach Amerika, Australien – Hauptsache raus aus der Gefahrenzone. Binnen wenigen Tagen gelang es den großen Mächten, den gesamten Kontinent westlich des Balkans in Schutt und Asche zu legen. Millionen von Menschen starben, kaum ein Gebäude blieb unberührt und wo man hinsah, erblickte man die bitterschwarzen Früchte des Krieges.
Bisher wissen wir nicht, ob es noch anderswo in Europa Überlebende oder bewohnbaren Lebensraum gibt – nach uns hat jedenfalls noch keiner gesucht.
Im Grunde war es wohl unser Glück, dass uns das Geld und die Mittel zum Fliehen gefehlt hatten. So waren wir nach der Nachricht der ersten Atomwaffen nicht zum nächsten Flugplatz gefahren, sondern hatten uns in einem Wald, fernab der Zivilisation und geschützt vor den allwissenden Augen der Kameras, in einem kleinen Verschlag versteckt und ausgeharrt.
Mehrmals die Stunde rauschten Hubschrauber, Jets und Flugzeuge über uns hinweg und ständig hörten wir Explosionen, viel zu nahe bei uns.
Ich weiß noch genau, wie ich da saß, in der von der Tür am weitesten entfernten Ecke, eng an meinen Bruder geklammert, stets in der Hoffnung, dass dieser Schrecken der letzte sei.
Vier Tage verbrachten wir so dort; zu zwölft auf höchstens neun Quadratmetern, mit nichts als den Kleidern, die wir am Leib trugen. Zitternd und schreiend vor Angst, bis die Abstände zwischen den Geschossen langsam größer zu werden begannen.
Vier Tage dauerte es bis die großen Mächte beschlossen, dass es in Europa nichts mehr zu holen und nichts mehr zu zerstören gab – vielleicht hat sich auch jemand ergeben, war besiegt worden oder man hat eine Übereinkunft getroffen - wir wissen es nicht.
In dieser Ungewissheit verharrten wir weitere fünf Tage, bis der Flugverkehr über uns wirklich eingestellt zu sein schien. Erst dann trauten wir uns zurück in die Zivilisation – oder besser gesagt das, was nach den vielen zerstörerischen Jahren noch davon stand.
Bei dem Gedanken an die Tage im Wald und die Bilder dessen, was uns bei unserer Rückkehr erwartete, flutet eine viel zu bekannte Kälte meinen Körper und lässt mich frösteln.
Mit den Gefühlen von damals erfüllt, rücke ich näher an Noah und lasse mich von ihm noch fester in die Arme ziehen. In seiner Gegenwart habe ich mich schon als Kind wohler und beschützter gefühlt.
Jede einzelne seiner Umarmungen zeigt mir tagtäglich, dass wir immer noch uns haben; dass es im Grunde egal ist, was wir durchgestanden haben, was einmal war und wie es jetzt um uns aussieht – solange wir weiter machen, haben wir eine Chance zu leben. Und das nicht nur in einem rein körperlichen Sinne; wir können seelisch leben! Jeden einzelnen Tag genießen, in dem Bestreben, gemeinsam mit den anderen überlebenden für folgende Generationen etwas aufzubauen, auf Grundlage dessen sie leben können.
Natürlich ist das, wonach wir nun streben, bei weitem nicht mehr das gleiche wie früher; Ruhm, Erfolg, Reichtum und Ehre haben keinen Stellenwert mehr in unserer kleinen Gesellschaft.
Wir sind darum bemüht, in der Natur, die inzwischen einige der vom Menschen geschaffenen Bauten wieder für sich eingenommen hat, Essbares und Nützliches zum Leben zu finden.
Und obwohl keiner von uns viel Ahnung vom Leben in der Wildnis hat, kommen wir doch gut zurecht. Denn, auch wenn wir bei weitem nicht mehr so viel zum Leben haben wie zuvor; keiner von uns hungert und alle sind gesund!
Trotzdem stehen uns noch schwere Zeiten bevor. Wir haben in den Ruinen der umliegenden Orte alles an noch brauchbaren Werkzeugen, Klamotten, Samen und Nahrung zusammengesucht, um uns eine Starthilfe zu schaffen, allerdings gilt es nun, möglichst schnell zu lernen, wie man Getreide anbaut, Alternativen für Kleidung, Decken und im Grunde alles mögliche findet.
Es ist ein Abenteuer – ein äußerst lebensbedrohliches- und der Gedanke daran ängstigt mich jeden Tag, an dem unsere Vorräte schwinden und Hilfsmittel abnutzen, mehr.
Wie sollen wir das schaffen?
In meiner Brust zieht es sich zusammen und ich spüre, wie Noah mir behutsam eine Träne von der Wange streicht.
Wenn ich dem ganzen etwas Gutes abgewinnen soll, ist es neben der zweiten Chance für Menschheit und Natur, dass das Zwischenmenschliche einen viel größeren Stellenwert hat als zuvor. Man gibt einander Kraft, erhält dafür Trost, Rat und jegliche Unterstützung. Denn, so kitschig es auch klingt, wir können das alles nur gemeinsam schaffen.
Wir wollen eine neue und hoffentlich bedachtere Kultur aufbauen als die, aus der wir kommen. Das ist alles andere als leicht, aber wir arbeiten täglich daran und so lange wir morgens wieder aufstehen, erleben wir kleine Fortschritte, die uns in unserem neuen Leben festigen.
Ich versuche an diesem Gedanken festzuhalten, kuschle mich in Noahs Arme, der mir beruhigend über den Kopf streicht, konzentriere mich auf seinen gleichmäßigen Atem und versuche so wieder einzuschlafen.