Ich kann den Unfall nicht vergessen. Ich sehe ihn jeden Tag im Spiegel. Die große Narbe, die sich über meine linke Wange bis zu meinem Kinn erstreckt, ist nicht zu übersehen. Auch gerade stehe ich vor dem Spiegel und sehe mich an. Meine blauen Augen sind rot gerändert, weil ich nicht gut schlafen konnte. Das kann ich schon lange nicht. Mein Blick fällt auf meine Narbe. Sie hebt sich rötlich vom Rest meiner hellen Haut ab. Ich atme tief durch, um gegen die aufkommenden Gedanken anzukommen, bin aber machtlos.
„Was ist denn mit deinem Gesicht?“, „Du bist hässlich, du solltest das verstecken.“ „Kannst du das nicht weg schminken?“. Meine größten Ängste und Unsicherheiten vermischen sich mit dem, was ich aufgrund meiner Narbe schon ertragen musste. Am schlimmsten sind ihre Blicke. Die Blicke, die mich verfolgen, wenn die Leute mich anstarren. Das Entsetzen auf den Gesichtern der Eltern, die ihre Kinder schnell an mir vorbeiziehen. Das Starren meiner ehemaligen Mitschüler. Ich senke den Blick vom Spiegel auf das Waschbecken darunter und halte mich daran fest. Mein Atem wird schneller, als ich spüre, wie meine Augen feucht brennen. Nein, ich werde nicht weinen. Es bringt nichts, es wird nichts ändern. Ich atme tief durch, wische mir über die Augen und straffe die Schultern. Dann verlasse ich das Bad.
Nach dem Frühstück hole ich meine Tasche und packe mir schnell einen Apfel ein. Ich weiß von vorne herein, dass ich ihn nicht essen werde, zumindest nicht in der Schule. Ich gehe in die zehnte Klasse einer Integrierten Gesamtschule. Letztes Jahr habe ich die Schule gewechselt. Die Anfeindungen habe ich einfach nicht mehr ausgehalten. Eigentlich ist meine Mutter ein ruhiger, ausgeglichener Mensch, aber ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem wir die Entscheidung getroffen haben. Sie war richtig aufgebracht gewesen: „Oh, Lea. Ich verstehe die Welt manchmal nicht. Du bist so ein liebes Mädchen. Warum verdammt nochmal kann das niemand sehen?“. „Weil meine Narbe alles verdeckt. Sie ist in ihren Augen das, was mich anders macht, das, was mich ausmacht.“, hätte ich am liebsten gerufen. Diese Antwort habe ich damals für mich behalten.
Meine Mutter und ich verlassen die Wohnung und fahren kurz darauf zur Schule. Im Gegensatz zu den Fahrten, die mich zu meiner ehemaligen Schule brachten, bin ich nicht angespannt und nicht erfüllt von der Gewissheit, alleine zu sein. Das liegt an der FFP2 Maske, die ich jetzt tragen kann. Ich weiß, dass die Pandemie die ganze Welt in Atem hält und die Krankheit sehr viel Leid mit sich bringt. Trotzdem hat mir diese Maske, die meine Narbe verdeckt, eine Chance gegeben. Die Chance, wieder als Lea angesehen zu werden. Als jemand, der dazugehören kann, als jemand, der Freunde hat. Sie hat mir Hoffnung gegeben.
Bevor wir die Schule erreichen, setze ich die Maske auf und steige aus. Meine Mutter winkt kurz und fährt weiter. Ich betrete das Schulgelände durch das blaue Tor. Möglichst unauffällig beobachte ich die anderen Schüler, die wie ich in ihre Räume gehen. Es ist so ein schönes Gefühl, nicht ihren Blicken auszuweichen und den Kopf einzuziehen, wie ich es eigentlich gewohnt bin. Zielsicher setze ich meinen Weg fort und als ich den Klassenraum betrete, entdeckt mich Kaya. Kaya ist eine treue Seele. Im letzten Jahr haben wir uns wirklich gut angefreundet und ich mag sie sehr. Sie ist immer gut gelaunt und redet wie ein Wasserfall. Ich unterhalte mich gern mit ihr und ihr fällt häufig etwas ein, um mich zum Lachen und zum Reden zu bringen. „Hi“, begrüße ich sie, als ich mich neben sie setze. „Hey, Lea“, antwortet sie und dann fängt auch schon an, mir von allem möglichen zu erzählen. Ich höre ihr aufmerksam zu und werfe manchmal einen kleinen Kommentar ein. Ich bin ein bisschen eingerostet, wenn es darum geht, Konversation zu betreiben. Deswegen tut es mir so gut, eine beste Freundin wie Kaya zu haben. Sie stört das nicht im geringsten, solange ich nur zuhöre und darin bin ich ziemlich gut. Manchmal denke ich darüber nach, ihr von meiner Narbe zu erzählen oder sie ihr zu zeigen. Es fühlt sich falsch an, ihr nichts davon zu erzählen, weil der Unfall und die Narbe ein Teil meines Lebens sind. Es ist aber auch so, dass sie eben nur ein Teil sind. Es gibt so viele andere Teile und vor allem mit Kaya habe ich das Gefühl, dass diese hervorkommen. Ich habe Angst vor ihrer Reaktion, wenn ich es ihr irgendwann sagen muss. Obwohl ich auf eine positive Reaktion hoffe, habe ich Angst vor ihr. Angst davor, zurückgewiesen zu werden, davor, dass sie sich von mir distanziert. Angst davor, dass sie mir nicht verzeihen kann, sie so lange nicht eingeweiht zu haben. Angst davor, dass sie mich nie wieder so ansehen wird, wie jetzt, sondern anders. Als wäre ich nicht mehr die Lea, die sie kennengelernt hat. Der Beginn des Unterrichts reißt mich aus meinen Gedanken.
Als es zum Pausenbeginn klingelt, stehe ich schnell auf. Felix, mein Sitznachbar, steht allerdings ebenso schnell auf und stößt mir mit dem Ellenbogen ins Gesicht. Mir entweicht ein schmerzerfülltes Geräusch als meine Narbe zieht. Er entschuldigt sich mehrmals, aber ich winke ab: „Alles gut, tut nicht so weh.“ Kaya sieht mich besorgt an. Als wir den Raum verlassen, zieht sie mich in Richtung eines Baumes ganz am Ende des Schulhofs. Wir sind alleine. „Lea, du verziehst immer noch deine Stirn. Das muss wehtun. Lass mich mal sehen, ob alles okay ist. Kann sein, dass du kühlen musst.“ Sie hält mich an beiden Schultern fest. Ich bekomme Panik. Was soll ich tun? Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Nein sagen? Sie wird mich fragen, wieso nicht. Ich möchte sie nicht anlügen, nicht so. Sie sieht noch besorgter aus, als ich nicht antworte. „Lea?“. Ich muss etwas tun. Was, wenn sie dich akzeptieren würde? Was wäre dann, Lea?, schießt es mir durch den Kopf. Du hättest endlich Gewissheit. Ich versuche, mir Mut zu machen. Sie ist meine beste Freundin.
„Kaya, ich muss dir etwas zeigen.“, flüstere ich leise und sie lässt meine Schultern langsam los. Kaya sieht mich erwartungsvoll und leicht verwirrt an. „Nicht erschrecken“, warne ich sie mit zitternder Stimme. Meine Hände schwitzen vor Angst, als ich meine Maske langsam abziehe. Als Erstes löse ich das Band hinter meinem rechten Ohr, sodass zuerst die unversehrte Seite meines Gesichts sichtbar ist. Dann atme ich tief durch. „Du schaffst das“, sage ich mir wie ein Mantra in meinem Kopf und ziehe die Maske ganz ab. Ich hebe vorsichtig meinen Blick. Kaya sieht mich einfach nur an. Ihre Augen wandern zwischen meiner Narbe und meinen Augen hin und her. Plötzlich tritt ein entschlossener, sanfter Ausdruck auf ihr Gesicht und sie läuft einen Schritt auf mich zu und umarmt mich. Perplex erwidere ich die Umarmung. „Du hast mir gar nicht gesagt, was für eine tapfere Heldin meine beste Freundin ist“, haucht sie einige Momente später. Ich lächele ohne darüber nachzudenken, wie meine Narbe dabei aussieht, lehne mich zurück und sehe sie an. Kaya erwidert mein Lächeln.