Sie hielt mir den Mund zu. Ekelhaft feucht lag ihre Hand auf meinen Lippen, verwehrte meinen Worten das Entfliehen. Erst als sie sicher sein konnte, dass ich nichts mehr zu sagen versuchte, lockerte sich ihr Griff. Ich war verstummt, noch ehe ich wusste, wie mir geschah. Doch um ehrlich zu sein, wollte ich gar nicht mehr reden, wollte, dass die Stille mich auffrisst. Weil das Wehren und das Sträuben irgendwann zu anstrengend geworden waren. Also schwieg ich stattdessen, während sich ihre langen dünnen Finger um meinem Hals schnürten. Das Schlucken fiel mir schwer, ebenso das Atmen, während ihre Stimme in meinen Kopf eindrang und meine eigenen schweren Gedanken vertrieb. Ihre fauchende Stimme, angsteinflößend und lähmend. „Du bist zu schwach! Keiner wird dir helfen!“ Der allbekannte Nebel bildete sich in meinem Kopf und tötete augenblicklich jeden noch so lächerlichen Einfall. Ihre Hände, meinen Hals eng umschlossen, verkrampften sich immer mehr, ihre langen Nägel bohrten sich in mein Fleisch. Ich wollte schreien, weinen, kämpfen… Doch schon im nächsten Moment erdrückte sie mich mit ihrem Gewicht, ihrer Last, so wie sie es bei Widerstand immer tat. Mein Atem wurde flacher. Mein Sichtfeld kleiner. Meine Muskeln müder. Ich erschlaffte wo ich war, meine Kraft ließ mich im Stich. Erneut wurde ich der Qual der Stimme ausgesetzt, als sie wieder in mein Ohr drang, mir keine Zeit zum Denken ließ. „Es haben dich alle im Stich gelassen, weil keiner dich liebt!“ Ich wand mich unter ihren Worten, wollte nicht begreifen, wollte nicht verstehen was sie sagte. Weil ich hoffte, sie würde lügen. „Sie dich doch nur um! Wie sie dich ansehen. Wie sie dich verurteilen während sie mich übersehen!“ Sie zog mich an den Haaren, zwang mich, den anderen ins Gesicht zu sehen. Auch wenn ich ihr nicht glauben wollte, ich hatte zu viel Angst, dass sie Recht hatte. Doch da war es bereits zu spät.
Ich blickte in zwei Gesichter. Während mich das eine mit Misstrauen beäugte, begegnete mir das andere mit ungeduldiger Wut. Sie hatte recht. Sie verurteilten mich, während sie nur mich sahen und nicht sie. Das wütende Gesicht schien etwas zu sagen, doch ich hörte nur die Worte der nachhallenden Stimme in meinem Kopf, immer und immer wieder, wie sie um meine Gedanken kreisten und nie zu ersterben schienen. Ein schadenfrohes Lachen mischte sich darunter, das Lachen von Triumph. Die Worte des wütenden Gesichtes prallten an mir ab. Das Lachen wurde immer lauter. Die Blicke des misstrauischen Gesichtes immer schmerzhafter. Der Raum begann sich zu drehen. Sahen sie denn nicht, was mit mir geschah? Wie ich litt? Sie saßen nur da, schrien mich an mit ihren Worten oder ihren Blicken. Übersahen dabei die Übeltäterin unter der ich litt und die mich innerlich zerfraß. Und während Mama und Papa das Zimmer verließen, ohne Geduld und ohne Verständnis, ließen sie mich zurück. Doch nicht allein. Mit ihr. Mit meiner Depression.
Eine innere Leere breitete sich in mir aus und Stille erfüllte meine Ohren. Ich traute mich kaum zu atmen, mich zu bewegen. Der Raum war noch immer verschwommen, mein Kopf noch immer vernebelt. Ich sah mich langsam um, ich war alleine. Nur mein Spiegelbild starrte mich an, von der anderen Seite des Raumes. Zuerst erkannte ich mich nicht wieder. Ein reißender Strom aus Tränen flutete mein Gesicht, versuchte mit aller Kraft, meine Verzweiflung wegzuspülen. Dabei hatte ich nicht einmal bemerkt, dass ich geweint hatte. Meine Augen waren rot und geschwollen, meine Brust hob und senkte sich unregelmäßig und angestrengt. Was war nur mit mir passiert? Ich versuchte mich schmerzlich daran zu erinnern, wie lange ich schon unter der ständigen Gewalt und Kontrolle – ihrer- litt. Ich war früher so glücklich. Konnte über meine Probleme reden. War leichtfüßig und träumerisch. Und dann kam sie. Schlich sich in mich hinein und baute in mir ihr Nest. Ohne dass ich es wollte oder irgendetwas hätte ausrichten können. Eine unergründliche Wut entbrannte in mir. So wollte ich nicht leben. In ständiger Angst, vor ihr und vor mir selbst. Distanziert von jedem und von jedem missverstanden. Ich wollte etwas ändern und das musste ich auch, bevor das Loch in mir immer größer wurde bis ich ihm nicht mehr entfliehen konnte und hineinfiel. Wenn das nicht sogar schon längst geschehen war… Meinen plötzlichen Anflug von Tatendrang konnte ich nicht begreifen. Woher kam die plötzliche Kraft die mich wieder aufstehen ließ? Innerlich sträubte sie sich vor meinem Vorhaben, drohte wieder an die Oberfläche zu kommen, doch da stürmte ich bereits aus meinem Zimmer.
Ich fiel meinen Eltern in die Arme, mein Schluchzen erschütterte unsere Umarmung. Urplötzlich wandelten sich die mürrischen Gesichter in besorgte. Denn auch wenn es sich manchmal so anfühlte, als hätte sich ihre Liebe zu mir mit der Zeit in Urteil gewandelt, wusste ich tief im Inneren, dass dem nicht so war. Und auch wenn meine Eltern nicht wussten, was in mich gefahren war, hielten sie mich fest. So fest. Allein das reichte aus, um mich sicher genug zu fühlen. Sicher genug, um ihnen zu erzählen, wie es mir ging. Was in mir vorging. WER in mir vorging. Die Geborgenheit der ersten Umarmung seit langer Zeit breitete in mir eine Wärme aus, welche die Kälte ihrer vorübergehend vertrieb. Ich spürte, wie sich ihre kalte Hand wieder auf meinen Mund zu legen versuchte, doch ich wollte nicht verstummen. Ich wollte schreien, ich wollte kämpfen und ehe ich mein klares Denken erneut verlor, tat ich genau das. Die Worte kamen aus mir heraus, nach so langer Zeit des zwanghaften Schweigens, pflanzten Samen des Verstehens in den Köpfen meiner Eltern und Samen der Mut in meinem.
Das war die wahrscheinlich schwerste und zugleich notwendigste Entscheidung meines Lebens. Denn das ermöglichte mir einen neuen Anfang. Meine Depression ist nicht verschwunden, so einfach geht das leider nicht. Sie lebt noch immer in mir, doch durch meine Stärke ist sie schwächer geworden. Und auch wenn ich sie nie vollkommen losgeworden bin, akzeptiere ich sie als einen Teil von mir. Ich habe gelernt, mit ihr umzugehen und dass sie nicht mich kontrolliert, sondern ich sie. Dass nicht ich in dem schwarzen Loch ihrer Existenz lebe, sondern Sie im Feuer meiner Seele, welches für so lange Zeit erstickt worden war. Mit dieser Erkenntnis und der Hilfe anderer Menschen sind mir die Flügel gewachsen die ich brauchte, um aus dem quälenden Spiel meiner Depressionen herauszufinden und die Verwandlung zu vollbringen, von der ich nicht wusste, wie sehr ich sie eigentlich brauchte. Und das ist schließlich das, was mich zu meinem eigenen Helden gemacht hat. Weil ich aus einem weiteren Kampf mit der Dunkelheit meinen letzten machte.