Inmitten des Trubels

Wettbewerbsbeitrag von Mai, 18 Jahre

Mit Worten aus der Krise. Wie passend. Ich sitze und schreibe.

Wie soll ich eine Krise bewältigen, wenn ich nicht einmal weiß, welche Krise ich habe. „Ich fühle mich nicht gut Herr Doktor“ sagte ich und schaute dabei mit trüben Augen den gelangweilten Mann im weißen Kittel an. „Was fehlt Ihnen denn?“ fragte er und zog ein kleines Notizbuch aus seiner Brusttasche. „Das ist es ja, ich weiß es nicht, aber ich bin nicht mehr glücklich. Ich habe alles versucht. Ich bin mit meiner Familie verreist, ich habe einen Freund, ich habe gefeiert und  getrunken, ich habe in meinem Garten unter dem Apfelbaum gelesen und ich habe ein Gemüsebeet gepflanzt und den verdammten Tomatenpflanzen Namen gegeben. Sie sind gut geworden. Möchten Sie eine probieren?“ Ich zog eine pralle, rote Tomate aus meiner Tasche. Er
lehnte förmlich, aber dankend ab. Ich biss hinein. Sie war so reif, dass sie auf der anderen Seite  aufplatzte und den weißen Kittel mit roten Spritzern befleckte. Ich lachte. Der Arzt fluchte und hing  den Kittel an einen Haken. Er drehte sich zu mir um und sagte mir, dies seien keine Probleme, die er lösen könne, aber er würde mich an einen Psychiater überweisen. Viele junge Damen hätten derzeit ähnliche Probleme. Er riss ein Blatt aus seinem Notizblock und legte es vor mich hin.
Anscheinend hatte er schon, während ich redete, das Formular einer Überweisung ausgefüllt. Ich nahm es und sah in sein rundes Gesicht mit den Falten um Augen und Mund. Die tiefen Furchen verrieten mir, dass er einst viel gelacht haben musste.

Ich ging nach Hause. Unter mir die abgerundeten Pflastersteine, rechts und links alte, schiefe Fachwerkhäuser. Ab und an auch ein paar Neubauten in kühlen Farben und mit großen Fenstern. Es ist alles gut. Die Sonne scheint. Ich mag das Dorf, ich mag den Wind und den Himmel. Ich blieb einen Moment stehen, um den Himmel zu bestaunen. Ohne es mitzubekommen, ist eine kleine Elefantenherde über das helle Blau galoppiert. Würde Van Gogh noch leben, hätte er sie sicher gemalt. Den Himmel und die alten Häuser, das Weizenfeld, welches sich gelb vor dem Hintergrund abhebt und die schwankenden Ähren im Wind. Die Wolken werfen dunkle Schatten und immer, wenn die Sonne hinter ihnen wieder auftaucht, wende ich mein Gesicht in ihre Richtung. Ich gehe rückwärts, weiter über das Weizenfeld. Der kürzeste Weg zu mir nach Hause. Ich sage dem Himmel, dass ich ihn liebe. Ohne zu zögern und ohne Hintergedanken. Ich frage ihn, was mir fehlt. Ich bin doch so gerne glücklich.

Der Psychiater sagte mir, ich solle anfangen zu schreiben. Tagebuch führen, wann und warum ich diese Stimmungen bekomme. Ich sage ihm, dass ich mich selten wirklich schlecht fühle. Es ist nur, dass ich mich auch nicht mehr wirklich gut fühle. Ich erzählte ihm, wie fröhlich ich immer war und mit wie viel Leidenschaft ich Dinge erledigt habe. Ich erzählte ihm von meiner Theorie. Ich bin im Grunde ein glücklicher Mensch. Ich habe eine Grundtoleranz, fröhlich zu sein, aber irgendwas belastet mich so stark, dass diese Toleranz ausgeglichen ist und ich nichts mehr wirklich fühle.
Der Mann war sympathisch. Er lächelte mich an und sagte mir, dass sich alles wieder richten wird und ich einen Weg finden werde, aber dass ihm schreiben wirklich geholfen habe. Egal worüber. Er hieß Dierk und gab mir seinen Kugelschreiber und ein leeres braunes Notizbuch. Wenn es mir besser ginge, soll ich ihm seinen Kugelschreiber zurückbringen. Tage später saß ich auf dem Marktplatz und aß ein Zitroneneis. Ein Versuch war es wert. Da zog ich das braune Notizbuch hervor und fing an zu schreiben. Von meinem Tag und dem wenigen,  was ich getan hatte. Die Worte kamen schleppend und träge, aber ich hörte nicht auf und langsam  kam ich in einen Rhythmus. Ich schrieb nicht mehr über mich und versuchte zu verstehen, was in  mir vorging. Ich sah mich um und schrieb über das, was ich sah. Ein Mädchen direkt neben mir. Sie versuchte Radschläge zu machen und jubelte jedesmal, wenn es ihr gelang wieder auf den  Füßen zu landen. Ihre Familie sah zu und lachte mit ihr. Das war das erste, was ich wahrnahm. Ich blickte hoch und sah noch viel mehr. Ich sah es nicht nur, ich roch die Blumen vom Floristen gleich neben dem Friedhof und die Pommes von der Familie mit dem radschlagenden Kind. Ich spürte den warmen Wind, der meine Lungen mit frischer Luft tilgte, und ich spürte die Schritte der Menschen auf dem Boden. Ein paar klackende Schuhe erweckten meine Aufmerksamkeit. Das Paar grüner Holzschuhe gehörten zu einer älteren Dame in schrulligen Klamotten. Aberwitzige  Grün- und Rottöne zierten ihren schlanken, aber kräftigen Körper. Sie trug eine Tasche mit Gemüse und ich erinnerte mich an meine Oma. Wie sehr ich sie immer dafür bewundert habe, dass sie ihr eigenes Gemüse aus dem Garten holte, um damit Mittag zu kochen. Ich stellte mir vor. wer diese Dame war. Was hinter ihr lag und ob sie auch Enkel hätte, mit denen sie Federball im Garten spielen konnte. Ich sah viele lächelnde Gesichter und das machte auch mich ein wenig  froh. Ich schrieb nun in krakeliger, verschmierter Schrift, denn meine Hand flog über das Papier.

Eine Geschichte. Eine Geschichte von Ungetümen, die sich vom Glück ernährten. Sie klauten es nicht, aber sie konnten nur überleben, wenn die Menschen um sie herum glücklich sind. Wenn man sie sieht, würde das eigene Glück ausreichen, um mindestens 5 Jahre zufrieden zu sein und wenn  man sie berührt, besteht die Gefahr wortwörtlich zu platzen vor Glück. Leider ist es unmöglich, sie zu sehen, da sie aus nicht sichtbaren Partikeln bestehen und nur manchmal Wellen in der Luft hinterlassen. Ungestüme Wesen. Irgendwann erwachte ich aus meiner Welt. Die Kirchturmuhr zeigte mir, dass eine Stunden  vergangen war und ich klappte das Notizbuch zu. Beim Gehen sann ich über den Tag und mir fiel  eine Lösung für mein selbstauferlegtes Rätsel ein. Es ging nicht darum zu ergründen, was mir fehlt und genau diese Lücke wieder zu füllen. Es ging darum das Rätsel, das Problem zu vergessen. Zu vergessen, dass ich mir diese Frage überhaupt gestellt habe. Es ging darum einfach und aus vollem  Herzen zu Leben. Ohne Fragen und ohne Antworten. Einer von den Menschen auf dem Marktplatz zu werden. Vielleicht auch in schrulligen Klamotten. Da ich das Problem nun erkannt hatte, konnte ich mich an einen Weg machen, das Problem zu vergessen. Ich weiß, dass es nicht leicht wird, einfach zu vergessen, aber wie mein Vater immer sagte: Problem erkannt, Problem gebannt. 

Genauso schrieb ich es in mein braunes Notizbuch. Ich schrieb noch mehr und es blieb nicht bei einem Notizbuch. Ich schrieb nur für mich. Es war ein Ort, von dem ich wusste, dass er nur mir gehört und ich fühlte mich frei. Ich schrieb mal in krakeliger, wilder Schrift manchmal in penibel und eng. Kein Platz mehr zwischen den Zeilen und kein Platz für andere Gedanken. Ich schrieb  manchmal über mich, wenn ich versuchte mit mir zu einem Ergebnis zu kommen, und ich schrieb auch anderes. Manchmal waren es nur Stichpunkte, aber es gab mir ein Gefühl der Genugtuung, meine Notizbücher zu sehen. Ich stellte mir vor, wie ich sie eines Tages verbrennen würde und die Vorstellung ließ mich noch verrücktere und wildere Sachen schreiben. Sie gab mir mehr Freiheit.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Mai, 18 Jahre