Der ver-rückte Sommer

Wettbewerbsbeitrag von Julius Richter, 13 Jahre

Es ist Sommer. Sommer – ich liebe den Sommer mit seinen langen Tagen, dem strahlend blauen Himmel, den milden Abenden am See, dem Schwimmen im kühlen Wasser, dem warmen Sand unter den Füßen. Meine Freunde paddeln auf ihren Boards zur Plattform. Ich höre sie lachen und fühle mich, fühle die Leichtigkeit und Freiheit. Ich schmecke den Sommer voller Liebe und Glück. Das ist mein Leben, genauso, wie es mir gefällt.
Doch ein Sommer in meinem Leben war anders. Und ich werde ihn niemals vergessen.
Es war der Sommer, in dem ich in die Schule kam. Ich war gerade sieben geworden und freute mich auf meinen Schuleintritt. Ich wollte endlich zu den Großen gehören, die mit ihren Ranzen auf dem Rücken jeden Morgen stolz durch das Schultor schritten. Ich wollte endlich all die Bücher lesen können, die in meinem Zimmer standen. Ich wollte rechnen können wie die Erwachsenen. Ich wollte die Accorde in meinem Klavierbuch richtig verstehen. Ich wollte die Spielpläne meiner liebsten Fussballmannschaften lesen können. Ach, ich wollte soviel. Bis meine Mum ihre Diagnose bekam und ich nur noch einen Wunsch hatte, einen einzigen, nämlich …. dass sie es schafft.

Schon lange kämpfte sie jeden Abend mit schlimmen Kopfschmerzen. Und niemand wusste, wieso. Manchmal war es so schlimm, dass sie zuhause gar nicht mehr lachen konnte und essen und sprechen. Und dabei war Mum bis dahin der fröhlichste und lebendigste Mensch, den ich kannte.
Zuerst glaubten wir alle, es sei der Stress. Denn Mum arbeitete ganz viel. Sie leitete die Sozialpädagogische Familienhilfe unserer Stadt. Sie begleitete dort Familien mit Kindern, deren Eltern Hilfe beim Betreuen und Erziehen brauchten. Und wenn Mum dann abends nach Hause kam, warteten mein Bruder Oskar und ich natürlich sehnsüchtig auf sie, um ihr von unserem Tag zu erzählen. Davon, welche Freunde wir neu gefunden, was wir alles im Kindergarten erlebt hatten, was es mittags zu essen gab und was morgen los sein wird. Meine große Schwester Stella wartete mit ihren Hausaufgaben, bei denen sie Unterstützung von Mum brauchte. Papa wartete auch auf sie. Er hatte andere Dinge auf dem Herzen. Denn in dem Sommer wurde seine neue Arbeitstelle auf unserem Grundstück gebaut. Eine Tagespflege für kleine Kinder, die er als Tagespapa betreuen würde. Ja, und mittendrin stillte Mum meine jüngste Schwester Mathilda. Sie war noch so klein. Und brauchte Mum vielleicht gerade da am allermeisten. Mathilda war unsere kleine Prinzessin.

Plötzlich ging eines Tages bei Mum gar nichts mehr. Sie musste ins Krankenhaus. Sie war gestürzt, einfach so hingefallen. Hatte in dem Moment schwarz gesehen und kein Gefühl im Bein. Wir wollten endlich wissen, was wirklich mit ihr los war. Die Ärzte untersuchten sie gründlich, und schnell fanden sie heraus, was ihr fehlte. Sie hatte einen Gehirntumor, einen extrem großen...
Das war ein Schock!
Mum durfte noch einmal nach Hause. Sie musste zwei Wochen warten und sich mit Medikamenten auf die Operation vorbereiten. In dieser Zeit hingen wir an ihr wie Kletten. Wir hatten Angst um sie. Sie sebst hatte auch Angst, große Angst. Aber sie wollte uns Mut machen und sich selbst. Und wir taten so, als ging der Alltag einfach weiter. Doch einfach war nun nichts mehr. Ich stellte viele Fragen, wie: „Kannst Du zu meinem Pokalspiel gucken kommen?“; Bist Du zu Oskars Geburtstag wieder zuhause?“; „Was ist mit meiner Einschulung?; „Kannst Du  mich an meinem ersten Tag zur Schule bringen?“ Mum konnte mir auf keine Frage eine Antwort geben und das hielt ich kaum aus.
Papa war die ganze Zeit still. Das war schlimm für uns. Nur Mathilda lachte viel und war wie immer unser Sonnenschein. Und das gab Mum Mut. Wir gaben ihr Mut, einfach, weil wir da waren, so wie wir waren, hat sie uns später erzählt.

Dann kam der Tag aller Tage. Die Operation begann in der Uniklinik frühmorgens um 8.
Wir gingen an diesem Morgen wie jeden Früh in den Kindergarten. Stella ging wie wie jeden früh in die Schule. Papa und Mathilda schaftten uns wie immer weg. Nur war an diesem Morgen Stille, einfach Stille. Zuhause fehlte uns Mum. Aber ich wusste an diesem Morgen auch, alles wird gut, unser Weg geht weiter geradeaus. Weil es so sein musste, was anderes durfte einfach nicht sein.. Oskar und ich waren den ganzen Tag zusammen und sprachen dabei kaum ein Wort.
Nachmittags kam Oma zu Besuch. Und Mamas Freunde. Wir warteten gespannt.
Und dann rief Papa in der Uniklinik an. Er wurde mit der Wachstation verbunden. Mein Herz klopfte wie wild. Zu mehr war keine Zeit. Diese Sekunden bis zur erlösenden Nachricht waren endlos. Mama war gerade aufgewacht und Papa strahlte übers ganze Gesicht. Sie hatte alles geschafft. Acht Stunden Operation lagen hinter Mum und sie lebte! Was war das für ein Glück!
Eine Woche später durften wir sie endlich besuchen. Sie hatte einen Kopfverband und Mathilda hat geweint. Mum sah so anders aus. Sie hatte keine langen Haare mehr, an ihrem Körper hingen überall Schläuche, sie war ganz blass. Doch ihre blauen Augen leuchteten, als sie uns sah. Ich hatte ein bisschen Gänsehaut. Wir alle hielten unsere Mum fest, einfach fest.

Das ist jetzt sieben Jahre her. Meine Eltern haben sich getrennt. Mum ist die alte „Neue“-  und immer noch unsere geliebte Mum. Sie ist stark aus der Sache rausgegangen. Und lebt ihr Leben anders, intensiver und schneller vielleicht, aber lebt mit und für uns. Papa konnte nicht mithalten mit Mum. Das hat uns traurig gemacht und tut es noch.
Wir reden viel. Und trösten uns. Und atmen weiter und lachen und blicken dankbar zurück.
In mir gibt es die Erinnerungen an diesen ver-rückten Sommer. Es sind meine Schätze, die ich hüte.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Julius Richter, 13 Jahre