Oh, wie schön ist das Leben

Wettbewerbsbeitrag von Leah, 19 Jahre

Dunkel
Ich sehe nichts als Dunkelheit.
Ich fühle, wie das Blut in meinen Adern fließt. Ich fühle das Kribbeln in meinen Beinen, das Schlagen des Herzens in meiner Brust. Ich merke, wie meine Lunge sich mit Luft füllt und in wenigen Sekunden wieder ausstößt. Aber ich sehe nichts…
Da! Ein kleiner Lichtstrahl. Er fühlt sich warm an, es kitzelt regelrecht auf meiner Haut. Ich lasse den Sonnenstrahl auf meiner Haut wirken und genieße dieses wohlfühlende Gefühl.

Ich fühle mich gut und geborgen, aber was ist das für ein komisches Geräusch? Es ist so schrill und laut. Es vibriert und brummt immer mal wieder, aber einordnen kann ich es immer noch nicht…

Ich öffne meine Augen. Das schöne, wohlfühlende Gefühl ist blitzartig verschwunden. Die harte Realität ergeht wie ein eiskalter Schauer über meinen gesamten Körper, bis hinüber in meinen kleinen Zeh.
Meine Knochen fühlen sich schwer und zerbrechlich an. Meine Gliedmaßen schmerzen und ächzen. Ich schleppe mich ins Badezimmer und erblicke mich im Spiegel.
Blaue Augenringe zieren mein Gesicht, trübe Augen, deren Funke lange erloschen ist. Falten, die die harte Zeit meines Lebens widerspiegeln…
Schnell wasche ich mich und schlurfe weiter in die Küche. Kaffee, ich brauche Kaffee!
Ohne Kaffee komme ich gar nicht mehr aus dem Haus, ohne Kaffee habe ich keinen Antrieb mehr.
Mhh, lecker und schön warm. So langsam merke ich, wie das Leben in meinen Körper zurückkehrt, wie meine Knochen leichter werden, aber die Last meines Herzens… die wird nicht weniger. Komisch. Woran kann das liegen…?
Grübelnd gehe ich in mein Schlafzimmer und ziehe mich an, frühstücke, putze meine Zähne und mache mich auf den Weg zur Arbeit.

Ich bin draußen und erblicke eine wunderschöne Natur? Ne! Zigarettenstummel, überall liegen Zigarettenstummel. Da! Taschentücher, und hier liegen Plastiktüten auf dem Weg. Wahnsinn, sogar alte Handyhüllen und kaputte Glasflaschen. Also heute ist echt wenig Müll auf der Straße. Auch am See liegt nur haufenweise Plastikmüll und wenige Tote Fische am Ufer. Auch hier bin ich beeindruckt.
Ich gehe den gewohnten Weg weiter zur Arbeit. Unter der Brücke an den Obdachlosen-Kolonnen vorbei, durch die verwahrlosten Gegenden mit den bettelnden Straßenkindern und Familien, bis ich an meinem Ziel bin.

Stunden um Stunden schufte ich, mache nur kurz eine Pause, um dann weiter zu schuften. Ich habe kaum gegessen, da die Zeit einfach fehlt. Ich hetze im Unternehmen herum, um nicht hungern zu müssen.
Ich arbeite bis zum Umfallen, bis ich endlich Feierabend habe.
Gewappnet mit meinem Pfefferspray laufe ich in den Gassen lang. Man kennt es ja als Frau. Selbst schuld, falls du von Männern angegriffen wirst!
Ich komme an einem Supermarkt vorbei und will nochmal schnell was einkaufen, damit ich etwas zu essen habe. Brot, Käse und etwas Wasser für 15 Euro, ich hätte mit mehr gerechnet, da so teure Preise völlig normal sind.

Geschafft, endlich zuhause angekommen. Ich öffne meine Haustür und stelle den Käse in meinen leeren Kühlschrank, das Brot kommt in meinen Brotkorb, der eigentlich gut gefüllt sein sollte.
Das Licht lasse ich aber ausgeschaltet, zu teuer, aber was solls. Nochmal schnell den Fernseher anschließen und Nachrichten gucken, man will ja immer von den neuesten Katastrophen unterrichtet werden.
Krieg in der Ukraine, Tausende Tote, Flüchtlingswelle innerhalb Europas. Fischsterben in Flüssen, Überfischung in der Nordsee. Inflation und Armut. Kinderarbeit in Bangladesh, Vergewaltigungen von 12 Jährigen, Hier wurde ein Afroamerikaner getötet, da wurde in einer Grundschule Amok gelaufen. Es ist alles mit dabei, nur es wundert keinen mehr.

Müde schalte ich den Fernseher aus, gehe ins Bad und sehe mich im Spiegel an.
Man bin ich dick, mich findet doch keiner schön?! Meine Arme wackeln total, am Bauch habe ich zu viel Speck und ein Doppelkinn habe ich auch. Ich muss Sport machen, denn sonst bin ich nicht schön!
Ich stelle mich auf die Waage, das Idealgewicht ist nochmal 5 Kilo weniger… Ich esse einfach nichts mehr.
Und die perfekte Figur habe ich auch nicht. Zu kleine Brüste, wenig Taille und definitiv kein Kim Kardashian Arsch! Ich gebe auf. Es bringt eh nichts, ich werde nicht schön sein, ich werde nicht gut genug sein.

Müde schminke ich mich ab, wasche mein sorgenvolles Gesicht und schlüpfe in meinen Pyjama. Einen letzten Blick in den Spiegel und- Moment mal. Habe ich heute überhaupt gelächelt? Mein Gesicht sieht aus wie 10 Tage Regenwetter. Ich blicke erschrocken in den Spiegel und versuche zu lachen. Komisch, irgendwie klappt das nicht so. Dabei ist das Leben doch so schön und es gibt keinen Grund zur Sorge, mir geht es doch gut?!

Nachdenklich gehe ich so langsam ins Schlafzimmer. Schnell nochmal eine Nachricht an meine Freunde und Eltern schicken, dass es mir gut geht und dann schnell ins Bett schlüpfen.

Ich komme zur Ruhe. Wahnsinn, wie schwer meine Knochen auf einmal sind, woran liegt das denn? Und Schmerzen in meinen Armen, Beinen, Füßen und im Rücken habe ich auch… Merkwürdig. Und diese Last, die auf meinem Herzen liegt, ist auch noch da.
Was ist das denn, nasse Wangen? Weine ich etwa? Aber wieso denn, es geht mir doch gut… oder etwa nicht?

Grübelnd schließe ich die Augen und schlafe ein.
Dunkel
vollkommene Dunkelheit.
Ich merke, wie leicht ich werde und alle Last und Sorgen von meinem Körper weichen. Ich merke, wie das Blut durch meine Adern fließt. Wie meine Beine an der weichen Daunendecke entlang schleifen und wie warm mir ums Herz wird.
Ich fühle mich sicher, wohl und geborgen.
Doch, was ist das?

Ich höre so ein komisches Geräusch. Es ist so schrill und vibriert… Irgendwoher kenne ich das doch…

Alle Infos zum Wettbewerb

Die Verwandelbar Sieger:innenehrung

Herzlichen Glückwunsch an die Preisträger:innen!

Teilnahmebedingungen und Datenschutzerklärung

Bitte lesen!

Die Verwandelbar-Jury

Die Jury verwandelt eure Einreichungen zum Schreibwettbewerb in wohlwollende Urteile :-)

Preise

Das gibt es im Schreibwettbewerb "Verwandelbar" zu gewinnen

Einsendungen

Die Beiträge zum Schreibwettbewerb Verwandelbar

Verwandelbar - Die Lesung

Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Leah, 19 Jahre