„Du willst also wissen, was mir die Stärke gegeben hat, durchzuhalten, als ich dachte, es gibt keinen Ausweg mehr?“, fragt mich Sascha, die ihren Arm um mich gelegt hat, während ich mir die salzigen Tränen von den dunkelblauen Augenringen wische und meinen Kopf wieder gegen ihre Schulter lege.
Wir hatten uns in der Oberstufe kennengelernt und die zwei Jahre bis zum Abitur eine lose, aber durchaus herzliche und tiefgehende Freundschaft geführt, bevor wir uns nach der Schule aus den Augen verloren hatten. Im Gegensatz zu ihr konnte ich mich damals nicht beklagen, denn sowohl meine schulischen Leistungen, als auch mein Privatleben waren mustergültig für Menschen in meinem Alter. Natürlich war auch ich ab und an traurig, zum Beispiel als sich meine damalige Freundin von mir trennte, oder meine Hündin eingeschläfert werden musste, aber nichts brachte mich wirklich langfristig aus dem emotionalen Gleichgewicht. Ich erreichte ein Abitur, mit dem mir alle weiteren Türen offen standen.
Sascha hatte nicht so viel Glück. Aufgrund ihrer schweren psychischen Probleme kam sie gerade so durch das Abitur und suchte sich direkt im Anschluss daran einen Job, damit sie endlich die Möglichkeit hatte, den dringend benötigten Abstand zu ihrer Familie zu finden und hatte dementsprechend eine Ausbildung zur Mediengestalterin begonnen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir dann auch den wirklichen Kontakt verloren. Zwar fragten wir uns von Zeit zu Zeit eher aus Gewohnheit und ohne wirkliches Interesse, wie es denn laufen würde, aber eigentlich hatten wir beide akzeptiert, das wir uns auseinander gelebt hatten.
Ich bewarb mich nach einigen Überlegungen dann für ein Geschichtsstudium, startete im Wintersemester 2019 in mein Studentenleben und merkte schnell, das ich definitiv keine so einfache Zeit haben würde, wie ich mir vorgestellt hatte. Zwar kam ich in Geschichte halbwegs passabel mit, konnte jedoch, was meine Noten anging, nicht angeben. Auch das Nebenfach stellte sich als weitaus schwieriger heraus als gedacht. Anstatt mich mit den anderen aus meinem Studiengang zu treffen, oder generell noch groß etwas zu unternehmen, wälzte ich mich durch die Berge an Literatur, um mich irgendwie über Wasser zu halten, aber ich hatte eher das Gefühl, nach jedem davon noch unwissender zu sein.
Die Decke fiel mir auf den Kopf, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen zu versagen und verfing mich mehr und mehr in meinen Studien bis ich auch gar keine Kraft mehr hatte. Wie in Trance entsperrte ich mein Handy, um mich ein wenig abzulenken und entdeckte eine Nachricht von einer mir unbekannten Nummer. Es war Sascha, die mich eingeladen hatte, sich auf eine Zigarette zu treffen, so wie wir es früher oft getan hatten, da sie jetzt mit ihrer Ausbildung fertig war und die freie Zeit nutzen wollte, ein paar alte Bekanntschaften wieder zu sehen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, das Wochenende mit Lernen zu verbringen, aber irgendwas trieb mich vor die Tür und deshalb sitze ich jetzt hier auf dem Balkon und versuche wenigstens ein wenig meine Tränen zu unterdrücken. Eigentlich hatte der Abend wie ein ganz normales Treffen unter Menschen begonnen, die sich lange nicht mehr gesehen haben. Wir redeten über die Schule, darüber, wer wen noch kannte und was man so erlebt hatte. Sascha hatte ihre Ausbildung abgeschlossen, sogar als Beste des IHK-Bezirks und war mit ihrem Beruf vollends zufrieden. Außerdem hatte sie den Kontakt zu ihren Eltern komplett abgebrochen und schien auch allgemein mit sich und der Welt klar zu kommen. Während ich dann von meiner Reise und dem Studium erzählte, brach es aus mir heraus. Ich erzählte davon, wie nutzlos ich mich fühlte, weil ich es nicht schaffte meine Leistung zu halten und das mich der Leistungsdruck der von meinen Eltern, aber primär von mir selbst kam, zerquetschte. Schlafen konnte ich seit Wochen nicht mehr richtig, die soziale Isolation zerrte an meinen Nerven und die Angst vor dem Scheitern führte dazu, das ich mich nicht mehr konzentrieren konnte und erst recht versagte. Ich wusste nicht mehr weiter und sah, wie alles, was ich dachte zu sein, um mich herum zerbrach.
„Wie hast du es geschafft das zu überstehen? Ich fühle mich erst seit einem Jahr so und du schon, seit ich dich kenne. Wie machst du das?“, frage ich Sascha also als Antwort auf ihre Frage und sie zündet sich eine Zigarette an, bevor sie anfängt zu erzählen. „Du weißt ja, dass ich schon viel länger mit meinen Depressionen gekämpft habe als wir uns überhaupt kennen. Manchmal war es so schlimm, das ich nicht aus dem Bett aufstehen konnte. Ich versuchte den Wecker auszuschalten, aber ich hatte keine Kraft meinen Arm zu heben. Meine Eltern kamen oft rein und zogen mich an den Haaren aus dem Bett, weil es für sie Faulheit war.“ Sie hält kurz inne und zündet sich die Zigarette nochmal an, bevor sie tief inhaliert und den grauen Rauch in den Himmel pustet. „Nach dem Abitur habe ich dann direkt mit der Ausbildung angefangen, konnte mir aber nicht leisten auszuziehen. Ich gab mein bestes, aber so um Weihnachten herum erreichte ich einen bisher noch nicht gekannten Tiefpunkt. Der Winter ist zwar eigentlich meine liebste Jahreszeit, aber ich komm mit dieser ganzen Weihnachts-Heuchelei nicht klar.“ Erneut eine kurze Pause, in der wir beide zu den Sternen blicken. Dann holt Sascha tief Luft und fährt fort. „Nun ja, meine Eltern haben mich in der Badewanne gefunden und irgendwann bin ich im Krankenhaus wieder aufgewacht. Als ich körperlich wieder halbwegs fit war, wurde ich in die Psychiatrie eingewiesen und verbrachte die nächsten vier Monate dort. Die Distanz zu meinem Leben hat mir geholfen über einiges klar zu werden und der wichtigste Punkt war, dass einfach nichts einen Sinn hat.“ „Deine große Erleuchtung war also, dass alles sinnlos ist und das ist für dich ein Grund weiterzumachen?“, fasse ich zusammen. „Ja genau das ist es. Schau, wir machen uns so viele Gedanken über allen möglichen Kram. Wir sorgen uns darum, was andere von uns denken und suchen einen vordefinierten Sinn, den es nicht gibt. Das Leben ist nutzlos und wenn du stirbst, ist es der Welt egal. Also mach, was du möchtest und womit du dich gut fühlst, denn am Ende des Tages bist du es, der sich schlecht fühlt und nicht deine Eltern oder deine Professoren. Ich habe die Sinnlosigkeit des Lebens akzeptiert und gebe meinem Leben jetzt selbst, jeden Tag aufs Neue, meinen Sinn.“ Die Worte hallen in meinem Kopf hin und her. Ich brauche einige Minuten, um den Sinn dahinter zu verstehen. „Ich glaube, du hast Recht. Vielleicht ist es wirklich egal und deshalb haben wir die Freiheit das zu tun, was uns gefällt.“, versuche ich an ihre Argumentation anzuschließen. „Richtig. Also ist es auch vollkommen in Ordnung, etwas nicht zu schaffen. Wichtig ist, dass du am Ende mit deinen Entscheidungen gut leben kannst und sonst nichts.“ Wir verbringen den restlichen Abend gemeinsam auf dem Balkon und diskutieren über alles mögliche, aber das Wichtigste wurde bereits gesagt.