Die heilenden Kräfte des Meeres
Wettbewerbsbeitrag von Hannah Hornbach, 18 Jahre
Die Wellen glitten über hellen Sand, trösteten ihn, glätteten Unebenen. An diesem kalten Frühlingsmorgen war eine Frau den Pfad zum Meer gegangen, zur kleinen, von Felsen umspülten Bucht, die selbst im Sommer von den Touristen gemieden wurde.
Beinahe sah es aus, als wären Tiere über den Strand gelaufen. Sie hatten Spuren hinterlassen, die das Meer schon lange fortgewaschen hatte. Vielleicht konnte es auch Menschen säubern.
Langsam kniete sie sich auf den kalten Sand und entknotete ihre Schnürsenkel. Die Sonne war noch nicht aus dem Meer aufgetaucht, doch die Helligkeit, die der feurigen Kugel vorrauszog, entriss der Bucht ihre Dunkelheit.
Die Frau warf einen hastigen Blick in ihre Umgebung, bevor sie die Schuhe abstreifte und die Socken von ihren Füßen schälte.
Sie knüpfte ihr Hemd auf, ließ die Hose fallen, zögerte. Sandkörner bohrten sich in ihre Fußsohlen, der Wind strich über ihre Haut. Sie trat aus dem kleinen Stoffhaufen hinaus. Als nächstes kam die Unterwäsche. Der Verschluss des BHs klemmte. Ihre Unterhose schmiegte sich an sie wie eine Rüstung. Wenn sie die abnahm, würde sie vollkommen nackt sein. Vollkommen schutzlos. Jeder könnte sie sehen. Jeder könnte sie anfassen. Harte Hände könnten sie zu Boden drücken, ihre Beine auseinanderschieben und ihre Schreie fressen, während sie sich hilflos auf kaltem Stein wandte.
Und sie würde wieder kapitulieren. Würde zulassen, dass ein anderer mit ihrem Körper tat, was ihm gefiel, sich von ihr nahm, was er wollte, und ein zerbrochenes Wesen zurückließ, wenn er es nicht mehr nutze. Was hatten ihr die Schreie gebracht? Was hatte ihr Betteln gebracht? Was hatten die Schläge gegen den Angreifer gebracht, der es noch nicht einmal bemerkt hatte?
Die Frau zitterte. Ihr Körper war vollkommen sauber. Sie hatte so oft mit Seife darüber geschrubbt, dass er sich schon wund anfühlte. Eine Welle rollte heran und kitzelte ihre Füße. Lockte sie.
Hier war niemand. Die Frau warf den letzten Fetzen Stoff von sich – er hatte sie vorher auch nicht geschützt – und schritt auf die Masse aus blauer Durchsichtigkeit zu. Wasser glitt in ihre Fußstapfen und der Sand verschob sich, bis kein Makel mehr zu sehen war.
Hier stand sie also: Vollkommen nackt, bis zu den Hüften eingehüllt von Salzwasser, die Haut golden im Licht der jungen Sonne. Und die Wellen kamen. Sie schlugen auf sie ein, rissen sie zu Boden, rasten über ihre wunde Haut hinweg und hinterließen ein Brennen und Kribbeln. Eine Böe jagte über sie hinweg und entriss ihrer Haut die Erinnerung an heißen, faulen Atem.
Die Frau tauchte unter. Und plötzlich war alles still. Sie schwebte ohne zu schwimmen. Eingelegt in Flüssigkeit, gefangen in ihrer eigenen Furcht. In Mauern aus Erinnerung und fremdem Atem und harten Händen.
Als sie aus dem Wasser auftauchte, hing die Sonne am Himmel wie tausend weiße Strahlen, die sich zu einer einzigen Feuerkugel formten. Die Frau erhob sich aus dem Meer und stampfte zum Ufer zurück. Was das Meer weggewaschen hatte, lag dort im Sand und wartete nur darauf, sich wieder auf sie zu stürzen.
„Du hast nichts falsch gemacht“, sagte eine Stimme und die Frau fuhr herum.
Eine Alte saß auf einem Felsen – ebenfalls nackt – und spielte mit einer Spindel. Ihr graues Haar war um ihren Kopf geflochten wie eine Krone. Hier und da glitzerten Sterne aus Farbe hervor.
„Er hat dich benutzt. Er wusste, dass du dich nicht wehren konntest. Es ging ihm nur um seinen Spaß. Um seine Macht. An dich hat er gar nicht gedacht.“
Die Frau schwieg. Eigentlich wusste sie das. Sie hatte es selbst so oft wiederholt, dass sich die Worte in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten wie ein Schandmal.
„Dein Leid ist seine Schuld. Nicht deine.“
„Ich hätte vorsichtiger sein können.“
„Er hätte ein ordentlicher Mensch sein können.“
„Ich hätte mich wehren können.“
„Er hätte dich in Ruhe lassen können.“
„Ich hätte irgendetwas anderes anziehen können…“
„Bitte!“ Die Alte stieß zornig ihre Spindel in den Sand. „Komm mir nicht damit. Er wollte ficken und er hätte dich auch vergewaltigt, wenn du im Kartoffelsack rumgelaufen wärst. Oder in einer Burka. Kleidung ändert nichts. Das ist ein Scheinargument, um dir die Schuld zuzuschieben!“
Die Frau schwieg und die Alte griff nach ihrer Schulter. Runzelige Hände strichen über glatte Haut. „Verschwende dich nicht in Selbsthass“, fuhr die Alte sanft fort. „Such die Schuld nicht bei den Unschuldigen. Er hat dich zu Boden geworfen, also steh auf und zieh ihn zur Rechenschaft!“ Und noch sanfter fügte sie hinzu: „Geh baden. Wasch den letzten Schmerz von dir. Deine Angst wird deine Stärke sein. Sie wird dich treiben, damit du anderen dieses Erlebnis ersparen kannst.“
Die Frau schritt noch einmal ins Meer. Die Wellen umarmten sie, streichelten über ihre Haut und hüllten sie in einen Mantel aus heilendem Salz. Die Narben blieben. Aber sie würden sich nicht entzünden. Sie würden Erinnerungen an das bleiben, was nie wieder geschehen durfte. Die Frau stand auf. Als sie sich zum Strand umdrehte war die Alte verschwunden. Nur ihr eigener Kleiderhaufen lag noch dort, zusammen mit einer Spindel. Sie würde in Zukunft selbst diese Spindel drehen und ihr eigenes Leben daraus spinnen, anstatt zuzulassen, dass sie in Verzweiflung hinabfiel.
Wellen rauschten. Die Sonne wartete am Himmel. Ein neuer Tag war angebrochen.
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Autorin / Autor: Hannah Hornbach, 18 Jahre