Am Fuße des bunt blühenden Hügels hinter dem Dorf war die Ilse unterm Kirschbaum begraben. Eingeäschert und geschützt durch die kräftigen, alten Arme des Baumes lag sie hier schon seit nunmehr einem Jahrzehnt. Bei ihr trauerte ihr Mann. In sich zusammengesunken, an den festen Stamm des Baumes gelehnt, teilte er all seinen Kummer mit ihr. Sein Rücken am Stamm des Baumes, als wäre es ihr Rücken, der ihm Halt gab. Doch kaum verließ er den Baum, fühlte er nur noch Leere in sich und sehnte sich zurück an den Ort, der ihn seiner verstorbenen Frau näher brachte. Jeden Morgen stand er auf, jeden Morgen ging er zu seiner mühseligen Arbeit, bemühte sich bis zum späten Nachmittag und jeden Abend begab er sich zum Kirschbaum seiner Frau. Immer arbeitete er gut und tüchtig, doch auch ruhelos. Seine Freunde hatte er verlassen und quälte sich mit dem Gedanken an seine Ilse, wie sie ihn mitleidig und vorwurfsvoll betrachtete: „Verlass deine Freunde nicht, ich bin nicht mehr da mein Liebling“, ermahnte sie ihn im Traum. Aber der trauernde Mann konnte nicht anders, als sein Herz voll und ganz seiner toten Frau zu widmen und nicht den Lebenden. Seine Treue wurde bewundert und verlacht. Die Bösen munkelten, er sei verrückt, er spräche mit dem Kirschbaum hinterm Dorf, weil er glaubte, er s e i seine Frau. Die Gutmütigen warfen ihm lange Blicke nach, wenn er seinen täglichen Weg zum Kirschbaum einschlug und hofften auf Besserung.
Das Jahr verging, doch der Mann trug seinen Winterschal noch lange in den nächsten Frühling hinein. Langsam reiften die Kirschen, die Sonne schien auf das grüne Blätterdach und schenkte dem Mann einen Schattenplatz. Und als die Kirschen ganz rot und reif geworden waren, da wurde der Mann noch trauriger, denn er wusste, dass sie bald herabfallen würden, ohne dass seine Frau sie kosten konnte, ohne dass sie die Marmelade kochen konnte, ohne dass sie ihn mit roten Lippen küssen konnte. So aß auch er keine der prallen, saftigen Kirschen und verabschiedete sich lange nach Sonnenuntergang um sich schleppend auf den Heimweg zu machen. Hinweg über das hohe, sich sanft wiegende Gras, durch welches er kraftlos seine Arme und Beine zog. Die Grillen zirpten ihr Lied, doch er nahm es kaum wahr.
Der nächste Abend kam und war warm, voll leuchtender Farben, die jedem Grashalm und Blatt einen eigenen Teint verliehen. Und auch die Kirschen leuchteten knallrot aus der Ferne zu dem alten Mann hinauf, als er sich den Hügel hinabbegeben wollte. Aber er hielt inne, denn noch etwas strahlte ihm aus dem Baum entgegen. Es war das sonnengelbe Kleidchen eines Mädchens, das mit einem Lächeln und gierigen Händen nach den Kirschen griff. Im Mann entbrannte eine Wut, wie er sie lange nicht mehr verspürt hatte und zugleich eine erschöpfte Hilflosigkeit, die ihn zu Boden sinken ließ. Ohne nochmals aufzublicken, erhob er sich und ging zurück zu seinem leeren Haus, legte sich in sein leeres Bett und wollte sich seinen leeren Träume hingeben, doch ihm erschien das Mädchen in seinem gelben Kleid und als er sich ihm näherte, da erkannte er das Lächeln seiner Frau. Und sie lächelte so jugendlich und liebevoll wie am Tag, als er sie kennenlernte. Und so waren es nun Baum und Mädchen, die ihn des Abends zum Dorfhügel zogen, doch immer hielt er seinen Abstand, beobachtete das Spiel zwischen beiden Akteuren, die ihn so sehr in die Erinnerung trieben. Aber etwas hatte sich verändert. Es war nicht mehr nur die reine Trostlosigkeit, die ihn zum Kirschbaum seiner Frau zog, sondern auch die Hoffnung auf ein Lächeln aus der Ferne. Viele Abende verliefen auf diese neue Weise und selbst die Arbeitskollegen des alten Mannes bemerkten eine leichte Veränderung im Gemütszustand des Mannes. Es kam jedoch der Tag, an dem kein Kind mehr die Kirschen pflückte, und so ging der Mann voller Trauer hinunter, lehnte sich wie all die anderen Jahre an den rauen Stamm und blickte in die leere Krone hinauf. Kein gelbes Kleid und keine roten Kirschen.
Zwei Wochen später kam das Mädchen wieder. Es kam, als der Mann unglücklich in sich versunken unter den saftig grünen Blättern saß und an nichts dachte. Es setzte sich leise neben ihn und als er es bemerkte, lächelte es sein ganz eigenes kindliches Lächeln und sagte: „Ich danke dir sehr für die Kirschen!“ Und eine erleichterte Wärme stieg auf in der Brust des alten Mannes und er antwortete fest: „Alle Kirschen gehören dir.“
Den Baum besuchte der Mann nur noch selten, und wenn er ihn sah, konnte auch er mit einem Lächeln verweilen oder vorübergehen.