Der Schlupf

Wettbewerbsbeitrag von Elora Marx, 16 Jahre

Ihr denkt nicht einmal daran, dass ihr mich verletzt.
Nachlässig wie immer streicht er sich das Haar aus dem Gesicht, pustet mit seinem zigarettensüßen Atem nicht existente Flusen von seinem nicht ganz zugeknöpften Hemd, schüttelt sich. Seine Haare stehen wild ab, wild im Verhältnis zu seinen glänzend weißen Turnschuhen, wild im Gegensatz zu seinen Bügelfalten, seinem Uhrenglas, seiner Markenbrille. Er lacht.
Ist es gut oder schlecht, dass ihr euch verhaltet, als wäre ich nicht da?

Eine Erwiderung, zu sehr Elitenslang oder Grammatikfehler, um das Labyrinth hensens Gehörgänge und Gehirnwindungen zu überwinden, wird aus der anderen Ecke des Raumes gekrächzt. In der Tonalität unterscheidet sie sich kaum von dem Vorangegangenen. Ein Schubser, ein Knuff, und noch bevor irgendjemand ein „Bissu schwul!“ ausstoßen kann, ist der Männerkontakt dieser Pseudoalphaprimaten schon wieder vorbei. Jeder bleibt im Ring seines eigenen Egos. Die umsitzenden Jungen spenden verhaltenes Amüsement.
Es ging doch gar nicht um mich.

Unausgefüllte Blätter, unaufgeschlagene Blöcke beherrschen die Tische, während hin und her die im Witz getarnte Gewalt geschossen wird, ohne Verschnaufpause und so voll von Querschlägern, dass die Kontrahenten durch ihren Austausch nur ihre Freundschaft bekräftigen. Ist das Ibiza gewesen oder Italien, dieser Sommer oder der davor, wer ist nur das Mädchen auf dem Bild, nein, nicht diese, die ist doch auf unserer Schule, nein, die auf dem davor, die Geile, und während der eine in Remineszenz vergangener gefühlloser Ansprüche eifersüchtig wird, beginnt der andere, leise zu singen. Der Ballermann macht auch vor den Reichen nicht Halt.
Würde ich nicht hier neben euch sitzen, wie viel wäre euch mein Nein noch wert?

Hen ist überrascht, keine Veränderung hensens Atems zu spüren. Hen weiß, dass hen für alle in diesem Raum nur sie ist. Hen weiß, dass den anderen hens zwittriges Empfinden egal wäre. Hen weiß es, und doch versucht hen, die Objektmachung von sich zu weisen, die hens weiblichem Körper gelten würde, sobald hen eine der zwei verschonten Gruppen weiblich gelesener Menschen verlässt: die, die zu reich wirken, und die, die scheinbar es nicht gibt.
Sie reden doch nur über Frauen. Das bin ich nicht.

Doch das rücksichtslos polternde Wissen, dass sich diese mitschülerhaften Menschwesen mehr für das Ineinandergreifen von Wirtschaft und Börse interessieren als für die Gegensätzlichkeit von Biologie und Sein, kribbelt auf hensens Haut wie eine Ameisenhorde, wie die Horde ignoranter Vorhuttruppen einer unwilligen Welt.
Ich will nicht schweigen.

Und da kommt es. Der erstmalige Einsatz einer neu zusammengestückelten Waffe, abgeschossen schon jetzt mit traumwandlerischer Sicherheit: „Junge bissu Autismus oder was?!“. Und Punkt. Die Welt um hen geht weiter, und nur eine Delle in der Raumzeit gewährt hens brutal getroffener Seele Zuflucht. Alles ist in Zeitlupe. Und tausend Gedanken stürzen in dieser Sekunde in das immer tiefer werdende Loch in der Zeit, überqueren den Ereignishorizont und tauchen auf in hensens Kopf, ungeordnet, ungefiltert, ein Chaos, das sich vereinigt in einer rätselhaften Singularität.
Sie meinen es nicht. Oder doch? Sie meinen es in dem Moment, in dem sie es sagen, und da ist es egal, ob sie wissen, worüber sie reden. Offensichtlich nicht, woher auch, aber wenn sie nur wüssten!
Wenn!
Was gibt ihnen das Recht, so zu reden? Was gibt ihnen diese Macht? Was gibt ihnen die Gewalt, Gewalt auszuüben ohne einen zweiten Gedanken, einen zweiten Wimpernschlag? Und aus all diesen Fragen spüre ich, wie eine einzige hervor steigt und die anderen mehr und mehr übertönt:
Wie kann ich sie verletzen?
Verletzen, zerstückeln, zerstören. Ich schäme mich für diese Wünsche, doch ich kann sie nicht stoppen, das weiß ich, und ich weiß auch, sie sollten sich fürchten vor meiner Wut.
Wissen sie das?
Wissen sie, dass sie mit Autismus über mich reden, nicht über irgendeine brabbelnde, lallende Gestalt in einer Anstalt, sondern über mich, direkt neben ihnen, mit ihnen in einer Schule, einem Kurs, einem verdammten Raum? Aber sie sind ja zu beschäftigt mit sich und Drogen und Autos und Sex, um das zu verstehen, sie sind zu sehr daran gewöhnt, das Zentrum der Welt zu sein. Das tut am meisten weh, und wie sehr das wehtut, das Wissen, dass sie damit durchkommen werden, dass auch andere schweigen werden wie ich, da alle Worte meiner Verteidigung gefangen sind in diesem dampfenden Kessel, in dem er brodelt, mein Zorn, höher und höher, während ich falle, und ich spüre, wie es mir reicht und die ersten Tropfen über den Rand kochen und meine Hände erreichen, die zuschlagen wollen, obwohl ich weiß, dass das keine Lösung ist, und sie zurückhalte und die Tropfen einfange, und alles zusammengieße, um schlussendlich das Destillat meiner eigenen Gedanken zu betrachten, ein Becherchen voll einer Phrase, das mich anfüllen wird und über sie stellt, das mich kräftigt allein schon durch seinen Geruch, und das mich unbezwingbar macht, als ich mich damit betrinke, es ist kurz, es ist simpel und es lautet:
Ich bin stärker als ihr.
Seht euch doch nur an, erbärmlich und blind, wie ihr eurem Erfolg hinterherhechelt und eure Triebe lebt. Seht euch an, mit eurem Glanz und Geld, wie ihr zu geblendet seid, um den Wandel der Zeit zu begreifen. Seht euch an, denn ich werde es nicht tun, ich werde euch nicht das schenken, was ihr wollt, Genugtuung, Beleidigung, sondern ich werde euch treffen mit dem, was ihr am meisten fürchtet, und das ist meine Wut, meine Wut und die so vieler anderer, über die ihr glaubt, trampeln zu dürfen in euren reinweißen Schuhen, deren Sohlen sich rot färben von dem Blut und dem Schweiß und den Tränen, ihr werdet meine Wut kosten und ihr werdet ihr nichts entgegenzusetzen wissen, denn ihr könnt mich nicht zum Schweigen bringen, und meine Wut will, dass ich rede. Ihr habt es euch bequem gemacht in eurem kritiklosen Nest aus Verwandtschaft und Mitläufern, doch das wird erzittern, wenn ihr meine Stimme hört und sich ihr die anschließen werden, die früher still waren wie ich, denn wir haben nicht vergessen. Wir waren verstummt, doch unsere Erinnerung haben wir nicht verloren, wir waren verängstigt, doch jetzt können wir sprechen. Ich werde kein Opfer sein. Diese Worte, die ihr um euch schießt, sind der weiße Spiegel eurer Gedanken, und die, die ich der Welt zurufen werde, sind die Brechung meiner in alle Farben des Regenbogens. Ihr mögt sie ablehnen, doch die Mehrheit seid ihr nicht, und hunderte, die schweigen, warten darauf, dass eine Larve ihre Puppe verlässt und als Schmetterling aufsteigt, dass eine das Schweigen zerreißt und ihre Stimme erhebt.
Diese Stimme wird jetzt meine sein.

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.