Wettbewerbsbeitrag von Sally U. R. M., 20 Jahre
„Zuallererst: Wer von Ihnen fühlt sich nicht in der Lage, die Prüfung zu absolvieren?“
Ich hätte gerne meine Hand hochgerissen, meine Sachen gepackt und die Schulaula fluchtartig verlassen. Noch lieber hätte ich dem Volltrottel, der diese Fragestellung vor Abiturprüfungen zur Pflicht gemacht hat, mal ordentlich die Meinung gegeigt. Aber um ganz ehrlich zu sein, hätte ich am liebsten in dieser Sekunde einfach einen Herzinfarkt gehabt.
Von diesen drei Dingen geschah allerdings keines. Stattdessen blieb die Aula still, ein paar letzte Stifte wurden ausgepackt und von ein paar Schülern kam ein nervöses Lachen, als würden sie sagen wollen ‚Wer ist schon bereit, das Mathe-Abi zu schreiben?‘. Ich fühlte mich den Lachenden seltsam verbunden.
Mein Mathelehrer, von dem ich überzeugt war, dass er die zusätzliche Prüfungsaufsicht nur übernahm, um mich 250 Minuten hämisch anzugrinsen, fuhr also mit seiner Belehrung fort:
„Gut, wenn sich alle Schüler für die Prüfung gewappnet fühlen, werde ich Ihnen nun den Ablauf erklären…“
Er tat wirklich so, als hätte er uns dies noch nie erzählt, dabei haben wir ihn doch seit Wochen mit Fragen gelöchert. War das ein psychologischer Trick? Sollte uns dieser ganze Ablauf beruhigen? Housten, wir haben ein Problem, die These ist für die Tonne.
„… Essen und Trinken ist Ihnen gestattet…“
Wie gnädig, eine Henkersmahlzeit.
„… Sie haben also zur Beantwortung genügend Zeit…“
Kein Zeitalter seit Menschengedenken würde für mich ausreichen, um eine Stochastik-Aufgabe zu lösen.
„.. Taschenrechner sowie ein Tafelwerk…“
Tafelwerk?! Ich habe kein Tafelwerk, ich habe es vergessen, es ist zu Hause, ich-… Nein, es ist auf meinem Tisch, genau, ich hatte es vorhin ausgepackt.
„… Toilettengänge sind mit Anmeldung im Rahmen ebenfalls gestattet…“
Ich könnte noch rennen. Ich könnte aufstehen und fliehen und nie zurücksehen. Mir ist schlecht. Kann man sich überhaupt übergeben, wenn man seit Tagen nicht richtig gegessen hat?
„.. deswegen würde ich Ihnen das nicht empfehlen…“
Was empfehlen? Ich habe ihn nicht verstanden. Er redet ja immer noch! Ich muss zuhören, das ist wichtig, hör zu verdammt.
„… und damit teilen wir Ihnen auch schon die Prüfungsbögen aus.“
Jetzt wünschte ich mir doch, dass mein verhasster Mathelehrer noch Stunden geredet hätte. Na gut, es ist immerhin nur eine Prüfung, so ist es schneller vorbei. Es ist nur eine Prüfung, nur eine Prüfung, nur eine Prüfung…
Wie aus einer anderen Welt drang die Stimme meines Lehrers zu mir: „Sie dürfen nun anfangen. Viel Erfolg!“
Tatsächlich lag vor mir mein Prüfungsbogen, ich hatte gar nicht bemerkt, wie er mir gegeben wurde, aber da lag das Biest nun: Mein Mathe-Abitur. Ich starrte es an wie eine Kuh mit zwei Köpfen. Dieses Ding also hatte mir Albträume und Nervenzusammenbrüche bereitet – ein Stapel Papier, wofür ausnahmsweise das gute Druckerpapier verwendet wurde.
Und trotz dieses Wissens zitterten meine Hände als ich die erste Seite aufschlug. Ich versuchte, die Aufgaben zu lesen, doch die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen. Mein Mund fühlte sich trocken an und kalter Schweiß ran mir den Rücken herab. Wahrscheinlich sah der Schüler hinter mir die Schweißflecken. Moment, wer saß überhaupt hinter mir? Dreh dich jetzt nicht um, wahrscheinlich wäre das ein Betrugsversuch. Vielleicht Helene? Hatten wir heute nicht geredet? Oder war das gestern? Gott, kann jemand das Fenster aufmachen, ich bekomme keine Luft. Nein, du musst dich auf die Prüfung konzentrieren, konzentrier dich! Aber ich schaff das nicht, ich sehe die Aufgaben nicht, ich kann ja nicht mal lesen. Wie viel Zeit ist vergangen? 15 Minuten? Und ich habe noch nicht mal einen Stift in der Hand. Ich werde versagen, jetzt ist es auch egal, es ist alles vorbei. Ich habe diese verdammte Prüfung versemmelt, die zwar nur eine Prüfung ist, aber über mein weiteres Leben entscheidet und all die Arbeit der letzten zwei Jahre überhaupt geltend macht. Alle Tests und Hausarbeiten und Aufgaben und Vorträge und schlaflosen Nächte und Luft, GOTT, ich muss atmen. Ein und Aus, Ein und Aus, EinundAus, EinundAusEInundAu-
„Geht es Ihnen gut?“
Fast wie in Trance blickte ich von meiner Prüfung in das Gesicht meines Mathelehrers, der nun genau vor mir stand. Er hatte mich doch etwas gefragt, nur was?
„Was?“, hauchte ich ihm dann auch entgegen.
Nun ging er vor mir in die Hocke, wir waren nun vielleicht zum ersten Mal auf Augenhöhe. Ein weiteres erstes Mal war sein Lächeln – ich glaubte es nicht, mein Mathelehrer kann lächeln, kein spöttisches Lachen oder herablassendes Grinsen, nein, ein echtes Lächeln.
„Ich fragte, ob es Ihnen gut geht“, fragte er abermals ruhig.
„Nein“, sagte ich. Mir traten Tränen in die Augen, weil ich merkte, wie wahr es war. Wenn er die Tränen bemerkte, dann überspielte er es wirklich gut.
„Würde es Ihnen helfen, kurz mit mir auf den Flur zu gehen?“, fragte er.
Ich nickte immer noch etwas abwesend, er gab seinen zwei Kollegen ein Handzeichen und ich ließ mich von ihm aus der Aula führen. Kaum, dass wir den Raum verlassen hatten, glitt ich an der nächstbesten Wand hinab, unfähig, mich auf den Beinen zu halten. Mein Lehrer setzte sich mir gegenüber. So tat ich ein paar tiefe Atemzüge. Mein Herzschlag beruhigte sich und mein Gehirn schien wieder klare Gedanken fassen zu können. Es wurde etwas besser.
„Also“, fing er an, „ich mochte Sie nie besonders.“
„Ich Sie auch nicht“, antwortete ich.
„Hätte mich auch sehr gewundert.“
„Das ist keine gute Motivationsrede.“
„Dann lassen Sie mich doch ausreden.“
Ich hielt den Mund.
„Gut, also, ich meinte damit, dass ich Sie gut verstehen kann, dass Sie mich nicht leiden können. Ich dachte, Sie sind faul, deswegen habe ich Ihnen all diese zusätzlichen Aufgaben und Vorträge gegeben, aber… Passiert Ihnen so etwas wie gerade häufiger?“, fragte er zögerlich.
„… Ja.“
„Dann entschuldige ich mich.“
Wenn meine Prüfung eine zweiköpfige Kuh war, dann starrte ich meinen Mathelehrer nun an wie einen Außerirdischen. Mein Peiniger der letzten zwei Jahre entschuldigte sich bei mir?
„Wissen Sie, Sie sind nicht dumm“, fuhr er fort. „Ich habe immer geglaubt, dass Sie mit mehr Willenskraft weit kommen können. Aber wie gesagt habe ich mich in zumindest der Art der Förderung geirrt… Das, was sie darin erlebt haben, braucht eine ganz andere Art der Hilfe.“ Er schien kurz in Gedanken versunken zu sein. Dann stand er auf und sagte: „Vielleicht ist es dafür auch noch nicht ganz zu spät. Ich könnte für Sie einen Nachteilsausgleich herausschlagen, Sie könnten also die nun verlorene Zeit an das Ende Ihrer Prüfung hängen.“
Mein Magen drehte sich um. „Ich soll weitermachen? Nochmal da reingehen?“
„Also, ich denke, dass Sie bestehen können. Aber es ist Ihre Entscheidung. Also, fühlen Sie sich bereit, diese Prüfung fortzusetzen?“
Ich war müde, fühlte mich elend und wollte eigentlich nur nach Hause – genau wie vor der Prüfung. Allerdings war es doch komplett anders, auf eine Weise, wie ich es nicht beschreiben konnte. Vielleicht würde ich versagen, vielleicht würde ich gleich wieder hinausrennen, aber wegen dieses Gefühls atmete ich nochmals tief durch und sagte:
„Bereit.“