Engelsgleich

Wettbewerbsbeitrag von Fljúga Freiberger, 20 Jahre

Die Werbetafel, an der sie vorbei ging, flackerte müde. Doch mittlerweile war es egal, dass die Bilder verzerrt waren und die Farben wie ausgeblichen schienen. Es war egal, denn jeder kannte die Propaganda, die seit der großen Schwemme überall ausgestrahlt wurde. Und es war egal, denn keiner war mehr da, um sie sich anzusehen. Ein Bienenstock hatte sich in eine Betonwüste verwandelt. Seit Tagen war Araquiel keinem anderen lebendigen Wesen begegnet. Nur die Anzeigen waren immer noch allgegenwärtig. „Engel einer Nation“, schrien sie von halb-intakten Wänden und Aufstellern. Die Nation hatte das Weite gesucht. Nachts und heimlich war sie davongeschlichen, hatte ihre Verwundeten zwischen den Trümmern zurückgelassen und sie keines zweiten Blickes gewürdigt. Die Engel mussten sich kümmern. Und waren schutzlos den höhnischen Slogans ausgesetzt, denen sie vor so langer Zeit vertraut hatten.

Es raschelte. Araquiel blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Herz schlug schneller. Wer lauerte hinter der Straßenecke? Freund oder Feind? Vorsichtig machte sie einen Schritt nach vorne. Dann noch einen. Das Geräusch verstummte. Sie griff langsam an ihren Gürtel. Metall zischte, als sie ihre Waffe zog.  Mit einem lauten Knall fiel eine Mülltonne quer über die Straße und dahinter – ein Rabook. Araquiel atmete nicht auf. Das Wesen schaute sie aus großen Knopfaugen verwirrt an. Dünnes Fell kräuselte sich zwischen den zwei Hörnern, der schuppige, smaragdgrüne Panzer wies dunkle Flecken auf. Es hoppelte eine Elle zur Seite, schnupperte. „Mokka!“, ertönte eine helle Stimme. Es hallte zwischen den Gebäude-Ruinen. Schritte näherten sich. Araquiel trat um die Ecke. Eine Kindergestalt wich erschrocken zurück. Misstrauisch nahm Araquiel ihr Gegenüber ins Visier. Schmutziges, rostbraunes Haar lugte unter einer Kapuze hervor, die dieselbe Farbe hatte wie der Panzer des Rabooks. Ein graues Gewand bedeckte einen knochigen Körper. Das Mädchen zitterte – vor Angst, und wahrscheinlich auch vor Kälte und Erschöpfung. Araquiel verengte die Augen. „Wo ist deine Valiante?“, fragte sie. „Hab keine“, kam die knappe Antwort zurück.

Etwas stieß gegen Araquiels Schienbein. Sie sah zu Boden. Das Rabook hatte sich auf die Hinterpfoten gestellt und klopfte mit den Vorderpfoten wiederholt auf sie ein. Das Mädchen räusperte sich leise und nahm das Tier auf den Arm. „‘Tschuldigung“, murmelte es. „Mokka hat Hunger.“
Araquiel spürte, wie ihre Vorsicht dem ihr antrainierten Mitleid wich. Doch ganz entspannen konnte sie sich nicht. Ein kleines Kind als Köder für eine Falle zu benutzen – in einer Zeit, die geprägt war von Entbehrung und Hass, klang das nur allzu plausibel.
„Wo lebst du?“
„Nirgendwo.“
Der Engel hob eine Augenbraue. „Wo hast du zuletzt geschlafen?“
Das Mädchen drehte sich um und deutete in Richtung der eingefallenen Zwillingstürme im Osten.
„Bring mich hin.“
Der Gesichtsausdruck des Mädchens spiegelte eine Mischung aus Furcht und Trotz wider. Es vergrub die Nase im Nackenfell des Rabook und starrte wortlos zu Araquiel hinauf. Araquiel starrte zurück.
„Na los. Vom Rumstehen kriegt Mokka nichts zu Fressen.“

Zögernd wandte das Mädchen sich um und tappte los. Araquiel folgte ihm. Die Waffe im Anschlag, ließ sie ihren Blick wachsam über die Straße gleiten. Während sie sich einen Weg durch die Müll- und Schuttberge bahnten, kamen sie an einer weiteren Werbetafel vorbei. Diese schien schon vom Stromnetz getrennt worden zu sein, ihr Bildschirm blieb schwarz. Ein schwaches Lächeln huschte über Araquiels Lippen, als sie daran dachte, dass es so bald allen Tafeln ergehen würde. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die letzten Überbleibsel der Nation ganz aus der Stadt verschwinden würden. Nur schade, dass es dann schon zu spät wäre.

Sie erreichten eine Seitengasse, in der die Schatten tiefer zu fallen schienen als sonst. Links erhoben sich rote Ziegelmauern, eine ehemalige Fabrik vielleicht. Rechts vorne ragten verkohlte Balken aus der Brandruine eines Bankgebäudes. Dahinter reihten sich billige Mehrfamilienhäuser. Soweit Araquiel sehen konnte, war jedes Fenster eingeschlagen worden. Die Splitter bildeten einen gefährlichen Straßenbelag. Araquiel spähte zu den Füßen ihrer jungen Begleiterin. Die trug Lumpen, die man kaum als Schuhe bezeichnen konnte. Doch das Material wirkte zumindest stabil genug, um Scherben Widerstand leisten zu können. Das Mädchen stoppte.
„Was ist?“
Zwei Paar Augen richteten sich simultan auf sie, sodass sie sich unwillkürlich fragte, ob das Mädchen und das Rabook mehr verband, als oberflächlich ersichtlich wurde. „Bist du eine von denen?“ Die Kinderstimme klang vorwurfsvoll.
„Wen meinst du?“
„Die, die uns holen kommen.“
„Wir holen diejenigen, deren Zeit vorbei ist.“
„Warum?“
Araquiel stockte. „Damit sie nicht mehr leiden müssen“, antwortete sie und war sich dabei der Ironie ihrer Worte bewusst. Es war dieselbe Antwort, die auch sie bekommen hatte, als sie vor fünfzig Jahren zum ersten Mal dem Ruf der Werbetafeln gefolgt war.

„Ihr verursacht das Leid“, sagte das Mädchen. „Und dann tut ihr so, als wärt ihr Engel.“
Araquiel atmete tief durch. „Bring mich zu deinem Schlafplatz“, forderte sie. Das Mädchen presste die Lippen zusammen. Dann ging es weiter, die Scherben knirschten bei jedem Schritt. Ganz hinten, am Ende der Gasse, stand ein großer Metallcontainer. Zwischen ihm und der Wand blieb ein Spalt von etwa drei Ellen. Darüber war ein Plastiksack gespannt. Ein paar löchrige Decken lagen auf dem blanken Boden. Ein Rucksack sah aus, als wäre er nur knapp einem Feuer entgangen. Die Luft war fade und abgestanden. Einen Moment lang herrschten Schweigen und Bewegungslosigkeit. Araquiel blinzelte, als sie daran dachte, was das Mädchen schon durchgemacht haben musste. Endlich steckte sie ihre Waffe zurück an den Gürtel und zog stattdessen einen ledernen Wasserschlauch hervor. „Wie heißt du?“, fragte sie.
„Meine Valiante hat mich Heiri genannt.“
„Heiri“, wiederholte Araquiel. Sie reichte Heiri den Wasserschlauch. Die ging zu ihrem eigenen Rucksack und füllte das Wasser in eine kleine Glasflasche um, aus der sie zuerst das Rabook tränkte und dann selbst einen Schluck nahm. Sie gab den Schlauch zurück. Araquiel verstaute ihn sorgsam. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich, als wäre sie ihrer Bestimmung gerecht geworden.

„Komm mit zu mir“, sagte sie. Heiris Augen weiteten sich in Schock.
„Nicht so“, schob Araquiel hinterher. „Deine Zeit ist noch nicht gekommen.“
„Du meinst, ich habe noch nicht genug gelitten?“, erwiderte Heiri, ihre Worte klangen abgehackt.
„Ich meine, du stirbst nicht hier draußen. Und nicht an diesem Krieg.“
Mokka wandte sich auf Heiris Arm. „Hast du Karotten?“, fragte das Mädchen widerwillig.
„Ich kann welche finden.“
„Wie schnell?“
Bei dem Gedanken, wie früher von den Lüften hoch über das Land getragen zu werden – diesmal, um nach etwas echter Nahrung, ein bisschen Grün zu suchen -, musste Araquiel schlucken. „Schnell“, antwortete sie. „Schneller als der Wind.“

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.