Linnea…
Liebe Linnea…
Linnea, es tut-
Nein, ich kann das nicht. Es steht mir nicht zu, deinen Namen in den Mund zu nehmen, es steht mir nicht zu, ihn zu Papier zu bringen, und es steht mir nicht zu, dich anzusprechen, als wäre es nicht alles meine Schuld gewesen. Meine Schuld, dass du…
Stop.
Meine Therapeutin hat gesagt, ich soll keine Schuldgefühle haben. Sie alle sagen das. „Es ist nicht deine Schuld.“ „Mach dir keine Vorwürfe.“ „Du wusstest es nicht besser.“
Aber… Eigentlich wusste ich doch, dass du mich nicht…
Nein! Ich muss mich zusammenreißen, ich kann die anderen nicht auch noch enttäuschen. Meine Eltern sehen mich sowieso schon immer mit diesem mitleidigen Blick an. Oder ist es ein vorwurfsvoller Blick? Sehen sie doch, was ich für ein Monster bin? Sehen sie, was ich dir angetan habe? Du warst so unschuldig und sanft und glücklich, und dann kam ich und war so…
Ach, was schreibe ich hier eigentlich? Ich kann nicht mehr klar denken, seit du…
Seit du…
Ich kann es nicht. Die Worte zerfallen mir im Mund wie modrige Pilze. Wer hat das nochmal gesagt? Du wüsstest es. Du kanntest jedes Zitat und jeden Dichter in- und auswendig. Ich habe dich so bewundert dafür. Hofmannsthal, so hieß der. Passend, was er da geschrieben hat. Die Worte lösen sich in meinem Kopf in ihre Bestandteile auf, sie driften auseinander, und übrig bleibt nur Nebel und dieser modrige Geschmack von Reue. Und Schuld. Weil ich schul-.
Schon wieder. Warum kommen diese Gedanken immer, warum gebe ich mir die Schuld, warum höre ich nicht einfach auf die anderen? Warum kann ich nicht normal sein, nicht mal das? Ich bekomme keine Luft mehr. Atme, Mira. Ein. Und aus. Das sagt meine Therapeutin immer. Aber wie soll ich atmen, wenn da keine Luft ist, wie soll ich atmen, wenn da dieser Eisklotz in mir drin ist und sich in meine Kehle legt, wie soll ich atmen, wenn meine Lungen zugefroren sind? Der Atem des Menschen ist für seinesgleichen tödlich. Rousseau.
Ich weiß noch, wie wir immer diskutiert haben, wir beide. Über Gott und die Welt und Nicht-Gott und die Umwelt und die Unwelt. Ich habe immer gefragt, wozu es überhaupt Menschen gibt, wenn sie sowieso alles zerstören. Und dann hast du immer gesagt, dass jedes Lebewesen seine Daseinsberechtigung hat, und dass jeder Mensch mit seinem Leben genauso viel Gutes wie Schlechtes anrichten kann. Und du hast gesagt, dass alles äquivok ist, und als du gemerkt hast, dass ich nicht wusste, was dieses Wort heißt, hast du mir die Definition geliefert, wie sie im Duden steht: „doppelsinnig, verschieden deutbar“, und mich daran erinnert, dass nichts schwarz-weiß ist, und dass nichts eindeutig ist, und dann hast du Paulo Coelho zitiert: Alles ist miteinander verbunden, und hat einen Sinn. Obwohl dieser Sinn meist verborgen bleibt, wissen wir, dass wir unserer wahren Mission auf Erden nah sind, wenn unser Tun von der Energie der Begeisterung durchdrungen ist. Und du warst begeistert. Ich habe diese Energie geliebt, diese Lebensfreude.
Es ist so unfair. Warum-
Ich darf nicht-
Ich kann die Gedanken nicht aufhalten. Seit Monaten unterdrücke ich sie. Seit genau einem halben Jahr wütet dieser Sturm in mir, und ich bin das Auge des Orkans. Ruhig. Leer. Heuchlerisch. Zerstörerisch, wenn ich die Pforten öffne und mich vom Sturm einnehmen lasse. Paradox, eigentlich ist das Auge des Sturms doch innen, aber… Außerhalb der Worte gibt es keinen Widerspruch. „Die Stadt in der Wüste. Citadelle“. Wie oft hast du dir die Sätze deines Lieblingsbuches zueigen gemacht? Wie oft hast du mir daraus vorgelesen, wenn wir zusammen auf deinem Bett lagen? Du hast nicht einmal auf die Seiten geschaut, du hast die Worte einfach auswendig vor dich hingemurmelt, und der Klang deiner Stimme hat meine Ohren umspielt und meine Gedanken umschmiegt wie der Regen auf deiner Fensterscheibe.
Ich werde ihn nie wieder hören.
Ich vermisse dich so sehr. Heute Morgen dachte ich, ich hätte dich gesehen. So, wie du vorher warst. In der Midsommarnacht, als wir zusammen um den Maibaum getanzt sind. Dein Kleid ist um deinen Körper herumgewirbelt, so wie du immer um mich herumgewirbelt bist. Du hattest ein Armband aus bunten Perlen an, als wolltest du den Klang deines Lachens nach außen tragen. Du hast mich angesehen aus deinen grünen Augen, mit einem so freien Lächeln auf den Lippen, und es hat fast wehgetan. Und da musste ich es dir sagen.
Ich liebe dich.
Und du bist stehengeblieben, und die Welt ist es auch. Dein Lächeln war verschwunden. Deine Augen waren nicht mehr auf mich gerichtet. „Was?“ Aber du hast es verstanden, und ich habe es auch verstanden, aber ich konnte es nicht zurücknehmen. Und du bist weggelaufen, und ich bin dir hinterhergerannt. Du warst fast an der Straße, und ich habe dich gerufen, und du hast dich umgedreht und bist weitergerannt und-
Es ist meine Schuld. Ich habe das Auto gesehen. Meinetwegen bist du weggerannt. Wegen mir warst du so durch den Wind, dass du nicht stehengeblieben bist. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, Linnea, es ist meine Schuld.
Ich spüre, wie der Damm bricht. Das Eis um mein Herz schmilzt, und es steigt kochend heiß in meinem Hals auf und versengt meine Wangen. Wasser tropft auf dieses Papier hier, und die Buchstaben verschwimmen. Ich kann nichts mehr sehen, aber ich schreibe weiter. Die Wörter stürmen auf das Papier. Es ist meine Schuld, Linnea. Ich bin schuld. Ich liebe dich. Ich vermisse dich.
Ich habe gesagt „Ich liebe dich“, und ich konnte die Worte nicht bei mir halten. Du bist losgerannt, und ich konnte dich nicht festhalten. Du bist weitergerannt, und ich konnte dich nicht aufhalten.
Tränen reinigen das Herz, hast du immer gesagt, wenn ich dir erzählt habe, dass ich nicht weinen will, weil weinen schwach macht und nutzlos ist, und sinnlos. Tränen reinigen das Herz. Von irgendeinem russischen Schriftsteller. Ich habe dir nie geglaubt.
Aber das Eis ist gebrochen, und der Sturm ist nur noch eine Brise, die mir durch das Gesicht streicht.