Vulvodynie

Wettbewerbsbeitrag von Valentina Poveda, 22 Jahre

Mein Lieber, du guckst mich so fragend an, so fragend! Es muss so verwirrend für dich sein. Du liefst gerne mal den Pferden hinterher, aber heute sind sogar die Bilder von mir beim Reiten an den Wänden verschwunden. Deine Augen reden über Verwirrung, weil auf meinem Stuhl ein komischer Ring steht, fast wie ein Donut, ja, es muss dich an einen Donut erinnern, du verstehst nicht, warum ich auf einem Donut sitze, anstatt ihn zu essen. Du findest es komisch, dass ich nicht mehr jeden Tag aus dem Haus gehe und spät zurückkomme. Es muss dich bestimmt freuen, denn du hast mich den ganzen Tag für dich, aber es erscheint dir merkwürdig, dass ich trotzdem nicht wirklich mit dir spazieren gehen will und, wenn, dann verziehe ich das Gesicht und krieche nur mit ganz viel Mühe aus dem Bett krieche. Ob es mir nicht mehr gefällt, mit dir spazieren zu gehen? Ob ich dich nicht mehr liebe? Du verstehst es ganz falsch, mein Lieber und ich will dir das erklären.
Vielleicht vermisst du ihn auch. Vielleicht vermisst du diesen Mann, mit dem du dich so schnell angefreundet hast und mit dem du so gerne im Park mit der Frisbee gespielt hast. Ich habe gesehen, wie du an der Frisbee geschnüffelt hast. Da habe ich dir schon gesagt, dass er nicht wieder kommen wird, auch nicht, um seine Frisbee zu holen. Du vermisst ihn bestimmt. Du hoffst vielleicht trotzdem, dass er mal zurückkommen wird. Das wird nicht passieren.
Du fragst dich wahrscheinlich, wo die Speckwürfel sind. Wir haben die immer zusammen gegessen, erinnerst du dich? Du hast diese so geliebt. Wo sind die denn? Warum bringe ich dir keine mehr? Ich habe es versucht. Ich habe mich zusammengerissen und wollte dir welche bringen. Aber es war unser Ding, verstehst du? Es war unser Ding, ich konnte es nicht ertragen, dass es plötzlich zu deinem Ding geworden wäre. Zum Ding jedes anderen, außer mir.
Du kommst jedes Mal zu mir und jedes Mal leckst du mir die Tränen weg. Du machst dir Platz auf meinem Körper und wartest, dass ich dich streichle. Du machst das mehrmals am Tag und jedes Mal so liebevoll, als ob du dafür bezahlt werden würdest. Ich sehe in deinen Augen, dass du es nicht verstehst, aber du brauchst es nicht zu verstehen, um für mich da zu sein. Es ist ein schönes Ding. Es ist ein schönes Ding, dich zu haben.
Ich bin krank. Das ist die Erklärung. Ich bin krank mit einer Krankheit, die kaum jemand kennt. Es gibt auch nicht so viele Ärzte, die sie kennen. Ein Arzt... ja, ein Arzt ist so wie ein Tierarzt, aber für Menschen. Du gehst auch manchmal zum Tierarzt. Und ich gehe zum Arzt.
Aber viele Ärzte wussten nicht, warum ich Schmerzen hatte. Erinnerst du dich daran, als du die Tablette nicht schlucken wolltest und ich sie in deinen Fressnapf versteckt habe? Es ging dir ja nachher besser. Ich habe auch viele, viele solche Tabletten bekommen und (ich) musste sie schlucken, ohne, dass sie jemand in meinem Teller versteckt. Aber nachher ging es mir nicht besser, sondern schlechter. Die Schmerzen waren eine Qual: Ich konnte keine Sekunde zur Ruhe kommen. Es gab nichts, dass meine Schmerzen lindern konnte.
Und irgendwann haben die Ärzte meiner Krankheit einen Namen gegeben. Genauso wie du, hat sie auch einen Namen bekommen. Aber das erleichterte es nicht, sie näher kennenzulernen. Sie hat viele Gesichter und ganz unterschiedliche Herkünfte. Sie ist so wie ein Floh, der nicht weggehen oder sterben will, egal wie sehr man ihn zu beißen versucht: Man beißt sich am Ende nur selbst. Je aggressiver man dagegen vorgeht, desto aggressiver antwortet die Krankheit zurück.
Die Pferde, ja, die Schmerzen waren so stark, dass ich nicht mehr reiten konnte. Ich wollte die auch nicht mehr sehen. Du weißt wie es sich anfühlt, etwas, dass du sehr gerne magst, verlassen zu müssen. Genauso wie wenn dein quietschender Ball verloren gegangen ist. Wir konnten zwar einen neuen quietschenden Ball kaufen, aber es war nicht mehr der gleiche. Dieser war rot und nicht gelb wie der alte. Ich könnte mir auch einen anderen Ball holen, aber es kann nichts geben, das meinem Ball gleicht.
Der Donut ist eine kleine Linderung, die ich für mich, ganz alleine, entdeckt habe. Sitzring heißt er. Er soll die Muskeln im Beckenboden entspannen. Die Entspannung des Beckenbodens kann das Brennen lindern. Oder zumindest in der Theorie. Manchmal hilft es. Manchmal nicht. Sitzen ist an sich eine einzige Qual, deswegen findest du mich öfter im Bett.
Deswegen hat er mich immer öfter im Bett gefunden. Zuerst wollte er mich noch trösten und dazu animieren, etwas mit ihm zu unternehmen. Ich habe es am Anfang noch versucht. Ja, wirklich. Hör auf, meine Tränen abzulecken. Ich konnte es einfach nicht genießen. Ich konnte einfach nichts mehr genießen. Alles wurde von den Schmerzen überschattet. Nichts mehr bereitete mir Freude. Wie auch, wenn man sich vor lauter Schmerzen nicht auf den Film konzentrieren konnte? Er wird nicht zurückkommen. Er hat sich eine gesunde Frau ausgesucht. Ja, wie kann man so etwas verurteilen? Eine gesunde Frau, mit der er Kinder haben kann und der das Kindermachen nicht wehtut. Ja, eine Frau, die mal über etwas anderes redet, eine, die weiterhin arbeiten gehen kann und ein ganz normales Leben führt! Eine, die nicht alles mögliche ausprobiert, um sich von einem kleinen Floh zu befreien, ohne die Gewissheit zu haben, dass es funktionieren wird! Sich histaminarm zu ernähren, zum Beispiel, und ja, daran leiden die Speckwürfel! Es ist nicht meine Schuld! Ich vermisse die auch! Und ich vermisse auch Pizza und Alkohol und Erdbeeren und Schokolade.
Wenn du darauf beharrst, dann leck mir weiter die Tränen weg. Ich warne dich nur: Meine Krankheit geht davon nicht weg! Es gibt nichts, dass du tun kannst, ich habe eh schon alles versucht!
Lass mich zumindest die Augen schließen und träumen. Ja, du darfst dich neben mich hinlegen. Es war einmal eine Ärztin, die alle anderen Ärzte auf dieser Welt auf die Krankheit aufmerksam machte. Die Ärztin erschien im Fernsehen und berichtete in allen möglichen Zeitungen über die unsichtbare Krankheit, die durch keine bekannte Untersuchung erkennbar war. Viele Ärzte begaben sich an die Arbeit und exerzierten die Ursachen durch. Für jede Ursache wurde eine Behandlung gefunden. Jede Frau konnte behandelt werden und keine Frau musste die Kosten dafür selber tragen. Jede Frau wusste, wie man die Krankheit vorbeugen konnte. Jede Frau wusste, wie man kranke Frauen am besten unterstützen konnte.
Leck nicht meine Augenlider ab, leck die nicht ab! Ich will die Augen nicht aufmachen.


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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Valentina Poveda, 22 Jahre