Es war zu viel, als dass sie es noch schaffen konnte.
»Alles gut«, hatte sie ihrem Mann gesagt, »ich arbeite noch ein wenig weiter, dann komme ich nach.«
Sie hatte seinem Blick angesehen, dass er genau wusste, was sie wirklich dachte. Doch auch er war müde. Bevor er am nächsten Morgen in aller Frühe aufstand, hatte er eine gute Mütze Schlaf bitter nötig.
Blicklos starrte sie auf das vollgeschriebene Blatt, das oberste eines ganzen Stapels. Die roten Korrekturen, die sie bereits vorgenommen hatte, verschwammen vor ihren Augen, als die Müdigkeit sie einholte. Doch nein, sie durfte noch nicht schlafen.
Sie fühlte sich leer.
Einsamkeit machte sich breit, schlich wie ein Gift langsam, doch unbeirrbar in ihren Körper, ließ ihr Herz kalt und starr werden. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Stirn, wie bereits so oft in den letzten Tagen, und peinvoll kniff sie die Augen zusammen, presste die zur Faust geballte Hand auf ihr Herz.
Diese Hilflosigkeit machte sie fertig. Sie fühlte sich machtlos gegenüber den Kräften, die tagtäglich am Wirken waren, den Ereignissen, die sie stets aufs Neue einholten und ihr Leben wieder und wieder aus den Fugen geraten ließen.
Ein leises Schluchzen entwich ihrem schlanken Körper, als die Eindrücke sie schier überwältigten. Ihre Hand, noch immer den schreibbereiten Stift haltend, begann zu zittern und Tränen schossen ihr in die Augen. Es war zu viel.
In einer verzweifelten Bewegung ließ sie ihn fallen, schlang beide Arme haltsuchend um ihren Körper. All der Schmerz und die Angst, all die Zurückhaltung der letzten Tage brachen aus ihr hervor und ließen das Gefühl absoluter Ausweglosigkeit aufkommen. Es gab nichts, woran sie sich hätte festhalten können.
Bitte hilf mir.
Es war nur ein ersticktes Flüstern in ihrem Inneren, kaum lauter als der schnelle, rastlose Herzschlag, doch in ihm steckten alle Emotionen dieses Augenblicks. Jemand, irgendjemand, musste es hören. Auch wenn ihr Verstand es für unmöglich hielt, es musste so sein. Denn alleine schaffte sie es nicht.
Irgendwann erhob sie sich, packte mit einem Gefühl trister Resignation mechanisch ihre Sachen zusammen, wusch sich, putzte die Zähne und fiel ins Bett. Stille Tränen begleiteten sie in einen traumlosen Schlaf.
Es war bereits das fünfte Mal an diesem Tag, dass jemand den Sicherheitsabstand missachtete. Erneut fuhr sie sich mit den Fingern über die enganliegende Maske auf ihrem Gesicht, schob sie zurecht, als würde sie nicht ohnehin schon tadellos sitzen.
Aber ein Gefühl von Sicherheit blieb fern.
Schließlich begann die Stunde und sie erzählte von den neuesten Studien, beruhigte sich selbst mit Worten, die ihr versicherten, dass ihr eigenes Handeln sie schützte.
Aber die Leere blieb.
Dann musste sie ihnen sagen, dass sie die Korrekturen nicht geschafft hatte. Missmutige Gesichter bestätigten ihr Versagen. Auch das Material war nicht fehlerfrei. Wieder. Es ärgerte sie, aber gleichzeitig kam auch die Verzweiflung zurück.
Schließlich entstand eine Pause, als die Auszubildenden am Arbeiten waren. Sie blickte aus dem Fenster, doch sah sie nichts von der Blütenpracht des Mandelbäumchens, hörte nicht das fröhliche Zwitschern des kleinen Rotkehlchens. Ihre Gedanken verweilten bei einem einzigen Thema.
War es genug? Oder hätte sie dem erkälteten Jungen, der keine Maske getragen hatte, ferner bleiben müssen? Würde sie bald dieselbe Erfahrung durchleben müssen wie ihre Schwester und plötzlich viele Wochen lang nicht in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen?
Bei diesem Gedanken traten ihr plötzlich wieder Tränen in die Augen. Warum? Warum gerade ihre Schwester? Doch sie wollte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt. So leise wie möglich sog sie zitternd den Atem ein, während ihr Blick zurück in die Klasse wanderte.
Es waren alle am Arbeiten, niemanden schien ihre Verfassung zu kümmern. Bis auf eine. Das Mädchen sah sie direkt an, hatte ihre gütigen Augen voller Mitgefühl auf sie gerichtet. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke in einem wortlosen Austausch.
Es war nicht viel. Nicht viel, das ein Gegenwicht zur Trauer bilden konnte. Und doch war es etwas, wonach sie sich schon viel zu lange gesehnt hatte: Verständnis. Bedingungsloses Verständnis, fernab von jeglichem Verstand. Und für einen winzigen Augenblick fühlte sie sich getröstet.
Natürlich kehrten die Gedanken zurück. Sie konnte sie nicht aufhalten. Als sie am Nachmittag das Gebäude verließ, war ihr Kopf erneut so voll davon, dass sie kaum sah, wohin sie ging. Draußen nahm sie die Maske schließlich doch ab. Sie konnte nicht mehr, ihr fehlte die Luft zum Atmen unter dem dreilagigen, filtrierenden Stoff.
Sie stieg auf ihr Fahrrad und verließ das Gelände, während sie bereits durchdachte, was sie noch alles zu erledigen hatte. Mühsam versuchte sie, die Angst um ihre Schwester zu verdrängen. Warum gab es nichts, was sie tun konnte? Warum nur fühlte sie sich so derart hilflos?
Es war Musik, die sie diesmal aus ihrer Traurigkeit riss. Gitarrenklänge drangen an ihr Ohr und ohne bewusste Entscheidung verlangsamte sie ihre Fahrt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß ein Mädchen und während ihre Finger über die Saiten flogen, erklang die klare Stimme.
Sie bremste schließlich ganz und blieb am Straßenrand stehen. Etwas an den Worten erinnerte sie an eine unendlich fern scheinende Zeit, als sie selbst noch ein anderer Mensch gewesen war.
Gib nicht auf, hab Vertrauen
Dum spiras, sperare potes
Es scheint unsere Welt von Angst geführt
Doch die Zeit ist reif für Veränderung
Nach Hause! Wir haben das Extrem berührt
Geh voran mit Liebe im Herzen
Timor fugit, amor manet
Erlebe wieder, statt nur zu überleben
Spür Dankbarkeit für das, was ist
denn letztlich ist Glück, wonach wir streben
Es schien zu viel des Zufalls zu sein. Und auch wenn sie nie an Vorbestimmung geglaubt hatte, so gab es doch einen kleinen, verrückten Teil in ihr, der diesen Moment als Antwort auf die unausgesprochenen Fragen betrachtete.
Wären es nur die Worte gewesen, sie wären nicht bei ihr angekommen. Aber die Töne berührten einen Ort tief in ihrem Inneren und wie ein Heilmittel breitete sich von dort die Erkenntnis aus, dass ihr Umfeld ein Spiegel ihrer Wahrnehmung war, nicht umgekehrt.
Unvermittelt spürte sie Dankbarkeit in sich aufsteigen, kribbelnd breitete sich Wärme aus an dem so lange verlassen geglaubten Fleck ihres Herzens. Die Einsamkeit rückte in den Hintergrund und machte einem vorsichtigen, flimmernd scheinenden Funken Zuversicht Platz.
Der nächste Morgen kam in seiner üblichen Frühe, doch etwas hatte sich verändert. Langsam begann der Sonnenaufgang, die Landschaft mit seinem sanftgelben Schleier zu verzaubern und die ersten Vögel erwachten, um ihn wie ein Wunder zu preisen.
Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass der Jasmin vor ihrem Haus die ersten zarten Knospen trug.
Es war ein Anfang. Der kleine, zarte, zerbrechliche Anfang eines neuen Denkens und doch greifbarer als je zuvor. In diesem Augenblick war sie glücklich, denn plötzlich gab es nur noch das Jetzt.
Und zum ersten Mal seit langem war es perfekt.