Wir werden als glühende Lava in diese Welt gespuckt. Am Anfang steht immer Hoffnung. Übergeordnete Ziele sollen unseren Vorhaben und Unternehmungen auf dieser Welt Sinn geben. Die Erde ist wüst und leer. Wir füllen das Nichts mit den Träumen von einer besseren Zukunft. Wir werden als glühende Lava in diese Welt gespuckt. Zurück bleibt schwarzes Vulkangestein. Emil fragt sich, warum alles so schnell gehen muss. Eine einst vibrierende Stadt wird innerhalb von wenigen Jahren in die vor ihm ruhenden Ruinen verwandelt. Die Erklärungen auf der Schautafel werden der Wucht dieser Transformation nicht gerecht. Eine einstige Hochkultur wird von einem Moment auf den anderen durch Kolonialismus und Machtgier zerstört. Zwischen den geschriebenen Worten kann er die verschwommenen Umrisse der verhandelnden, friedlich zusammenlebenden, leidenden Menschen erahnen. Ihre Geschichten verschwinden wie die Feldsteine ihrer Behausungen, die sich die Natur langsam, aber sicher zurückholt.
Wir Erwachsene sehen einen 18-jährigen Menschen namens Emil, der in ein unschuldiges grünes Tal hinabsteigt, um die Schwere vergangener Tage hinter sich zu lassen. Eine sanfte Oase inmitten dieser gewaltigen Vulkanlandschaft. Wir suchen zwischen Emils abrasiertem Haar, dem intensiven Geruch nach Axe-Deo und den kantigen Gesichtszügen nach seiner Wahrheit, seiner Geschichte. Wir brauchen für alles Erklärungen. Wir versuchen seinen Schweiß zu schmecken, der Einsamkeit seiner Schritte nachzuspüren, um so Stück für Stück zu einem Teil von ihm zu werden. Emil nimmt einen Schluck aus seinem Flachmann. Er fühlt den beißenden Geschmack des Zuckerrohrschnapses, der ihn das Gesicht verziehen lässt und sich bald in seinem Körper ausbreitet. Der Ausblick ist unglaublich, er genießt es, sich hier ganz unbedeutend zu fühlen. Die Kontraste erschlagen ihn. Eiskaltes Wasser und brennende Steine. In die Höhe strebende Palmen und in die Tiefe fallende Steine.
Seine funkelnde Reise und die Erinnerungen, die sich in seinem Schatten verstecken. Wir wissen, dass Emil Angst hat. Wir waren dabei, als ihm die Augenbinde abgenommen wurde und er blinzeln musste, angesichts der Wirklichkeit dieser Welt. Als er das erste Mal von einem anderen Kind geschlagen worden ist. Aus Spaß. Als er sein Haar mit der der gezackten Bastelschere abschnitt. Um besser auszusehen. Als er das erste Mal unter Schmerzen mit einem Mann Sex hatte. Weil er endlich erwachsen werden wollte.
Es riecht nach trockenem Gras und totem Tier. Emil sieht seine Umgebung in verschwommenen Umrissen. Die Erde ist blutrot. Emil hat gelernt, nie aufzugeben. Wir versicherten ihm, dass in dieser Gesellschaft alles möglich sei, er müsse es nur wollen. Wenn er drei Monate seines Lebens an eine Lohnarbeitsfirma verkauft, kann er so wie alle anderen ans andere Ende der Welt fliegen. Dort ist der Boden mit dem Versprechen vom Vergessen gepflastert. In der Ferne kann er perfekte Insta-Posts hochladen und so tun als wäre auch er einer dieser selbstvergessenen Weltenbummler. Es lebe der Internationalismus! Schade, dass Emil kein Geld hat. Kein Wasser. Keinen Halt. Wir schließen die Augen als Emil den Abhang herunterrollt. Wir sind erstaunt als wir Emil lachen sehen. Junge Menschen sind komisch. Er scheint diesen Kontrollverlust zu genießen. Er breitet die aufgeschürften Arme aus und malt mit kreisenden Bewegungen einen Engel in den Sand. Wir denken, dass Emil nicht hier sein sollte. Er ist so klein, so jung. Aber wir wissen auch, dass Kinder dieser Tage weder klein noch jung sind. Kinder sind die neuen Erwachsenen. Sie kämpfen unsere Kriege, stecken sich mit unseren Krankheiten an und gehen an unserer jahrhundertealten Ignoranz zugrunde.
Emil hat seine Brille verloren, aber er bemüht sich nicht sie zu finden. Vor ihm schwebt eine Gestalt, die sich aus dem Himmel über ihm herausgelöst hat. Wir bemerken eine Frau, die sich ihm vorsichtig nähert. In seinen Augen flimmert die Frau in allen nur erdenklichen Farben und schwebt einige Zentimeter über dem Boden. Ein LSD-Trip? Ein Leben nach dem Tod? „Geht es dir gut?“, wie lange er diesen Satz schon nicht mehr gehört hat. „Ich bin am Leben“ erwidert er. „Das reicht erstmal.“ antwortet die Frau, die wir auf ungefähr 60 Jahre schätzen. Ein mit roten Perlen besticktes weißes Kleid umweht ihren dürren Körper. Langes, graues zu einem Zopf geflochtenes Haar. Ihre Haut ist stark gebräunt und vom Alter gezeichnet. Sie legt den jungen Mann in ihr weiches Bett. Sie fragt sich, wo seine Eltern sind. Sie raucht einen Joint, klettert ohne Sicherung eine steile Felswand hinauf und fährt in ihrer Schrottkarre wieder zurück zu ihrem Zuhause. Allen Herausforderungen begegnet sie mit einer inneren Ruhe und Gelassenheit. „Du bist gefallen“, erklärt sie ihm als er die Augen öffnet. „Ich bin gelandet“, antwortet er. „Wovor bist du geflohen?“, fragt sie ihn. Er will einer klischeebehafteten Antwort wie „Vor mir selbst“ entgehen. „Vor anderen Menschen“, sagt er verträumt. Er merkt, dass das sogar stimmt. Menschen fügen anderen Menschen Schmerzen zu. Oftmals ohne es zu merken. Damals wie heute. Sie legt ihre weiche Hand auf seine heiße Stirn. „Zum Glück bin ich kein Mensch“, flüstert sie ihm ins Ohr. „Ich weiß“, sagt er und schließt die Augen. Frieden. Das Rauschen der Bäume. Eine Hütte gebaut aus Bambus. Ein einzelner breiter Lichtstrahl, der durch die Türöffnung fällt. Alles ergänzt sich, es gibt keine Kontraste mehr.
Als er wieder bei vollem Bewusstsein ist, verlässt er sofort das Bett, in dem er Stunden, Tage, Jahre geschlafen hat. Seine Erinnerungen verlassen ihren Schattenplatz. Er geht, nur mit seiner Unterhose bekleidet, durch diesen fantastischen Ort. Ihm begegnen altbekannte Gesichter. Wie sonderbar, dass sie alle hier versammelt sind. Das zarte Mädchen, dass ihn damals im Kindergarten geschlagen hat, gibt ihm versöhnlich die Hand. Sein Haar wächst nach und fällt ihm in goldenen Locken über die Schultern. Der Mann, der damals in ihn eindrang, streichelt ihm zärtlich über den Kopf. Er hatte diesen Teil der Wahrheit verdrängt. Welche Geschichten der Vergangenheit erzählen wir uns und welche nicht? Warum brennen die Steine, wenn dieses Wasser, in dem er gerade schwimmt, doch so eiskalt ist? War es dieses menschliche Wesen, das ihn von seiner begrenzten Perspektive befreite? Wir blicken auf diesen Gedanken und fühlen, dass Emil keine Angst mehr hat. Eine Begegnung hat gereicht, um den ihn umgebenden Dämonen die Masken vom Gesicht zu reißen.
Das Wasser verdampft. Er entsteigt der heißen Luft mit einem Lächeln auf den Lippen. Er holt seine Kleidung aus der mittlerweile leeren Hütte. Wir sind zu weit weg, um seine nächsten Schritte zu verfolgen. Er könnte als alte Frau herumwandern und betrunkene Kinder vom Boden aufsammeln. Er könnte allein mit seinen Erinnerungen an diesem Ort verweilen. Er könnte anderen Menschen begegnen und sie lieben lernen. Wir wissen nicht um seine Entscheidung, wir haben unsere Entscheidung vor Jahren getroffen. Wir können uns nicht mehr erinnern, was uns dabei antrieb. Das letzte, was wir sehen, als Emil aus unserem Blickfeld verschwindet, ist das schwarze Vulkangestein. Seine Zukunft, unsere Vergangenheit. Das Vulkangestein ist schwarz, aber unter dem Einfluss der Sonne scheint es eine andere Farbe anzunehmen.