„Leere“ ist das einzige Wort, das niemand beschreiben kann. Dort ist nichts, kein Gefühl, kein Gegenstand, kein Leben. Wenn ich beschreiben müsste, was ich fühlte, wäre das das passende Wort. Nichts. Es war, als würde ich immer wieder in dieselbe Tiefe fallen ohne jegliches Ende. Und jedes Mal, wenn ich versuchte, Halt an etwas zu fassen, griff ich in das kalte, dunkle Nichts. Ein ewiger Kreislauf meines Lebens, dem ich nie entkommen konnte. Nicht einmal die warmen Klänge der Musik, die durch meine Kopfhörer drangen, schafften einen Weg durch die dicke Gefühlsmauer. Die alte dunkelbraune Holztür zu meinem Zimmer wurde geöffnet. Ohne hochzublicken, wusste ich, dass Liz dort stand und versuchte, mich mit ihrem Blick aus dunklen braunen Augen zu durchbohren. Der Boden knarrte als sie sich näherte und mir die Kopfhörer wegnahm. „Ich habe dich tausend Mal zum Essen gerufen, beim nächsten Mal lasse ich dich verhungern“, rief sie mit aufgebrachter Stimme und stapfte wieder davon. Langsam erhob ich mich von meinem Bett und lief die fast vermoderten Treppen herunter, die bei jedem Schritt zu brechen schienen. Am Ende des langen Flures war es hell beleuchtet und man hörte schon die vielen Stimmen am Esstisch. Sobald ich den Speisesaal des alten Herrenhauses erreicht hatte, drückte mir Liz Teller und Besteck in die Hand. Ich lief um den langen Tisch herum, vorbei an den Drillingen, die sich mit lautem Gelächter mit Essen bewarfen und der braven rosa Prinzessin, die mühsam versuchte, ihr Kleid vor dem Essen zu schützen. Am Ende des Tisches nahm ich Platz, weit weg von all dem Chaos meiner Stiefgeschwister. Während ich mir Gemüse aus einem Topf fischte, blickte ich in die starren Augen des Ältesten der Bande, der mir direkt gegenüber saß. Ohne großen Hunger stocherte ich in meinem Gemüse herum und nagte an einer labbrigen Karotte. Mit letzter Mühe schluckte ich die Erbse herunter, nahm meinen leeren Teller und stapfte damit in die Küche. „Danke Liebes.“ Irena lächelte mich an und nahm mir den Teller ab. Ich setzte mich zu ihr an die Theke und schnappte mir eine Erdbeere, die auf dem Obstteller stand. Früher war alles so viel einfacher gewesen, als meine Mutter noch gelebt hatte. Ich war erst zehn als sie an der Grippe starb, seitdem ist alles anders. Seitdem hatte sich das schwarze Loch geöffnet, aus dem ich es nicht mehr heraus schaffte. „Wie geht es dir, Kleine?“ fragte sie, während sie die Spülmaschine einräumte. „Ein andere Antwort als gestern wirst du nicht bekommen“, antwortete ich. „Hast du es schon einmal mit einer Therapie versucht?“ wollte sie wissen. „Ich möchte mich keinem Menschen anvertrauen, der glaubt, mein Leben verbessern zu können“, gab ich schnippisch zurück. „Ein Versuch wäre es wert“, versuchte sie es weiter. Jedoch wusste ich bereits, dass niemand mich verstehen würde. Wie sollte ich die Leere erklären? Ich stand wieder auf und ging mühsam und erschöpft in mein Zimmer zurück. Tausende Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte. Kaum eine Minute später schloss ich meine Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. In der Nacht wurde ich von Alpträumen gequält, die mich seit Mamas Tod verfolgten und meist waren es immer dieselben. Ich stand mitten im Nichts, im dunklen kalten Nichts und beobachtete wie all die Erinnerungen und Gefühle an mir vorbeizogen und sich in ein dunkelrotes Gelächter verwandelten, die auf mich einprasselten. Dann wachte ich schweißgebadet auf und konnte die restliche Nacht kaum wieder einschlafen. Am nächsten Morgen wurde ich von lautem Geschrei geweckt und auch meine Tür wurde aufgerissen. „Aufwachen, aufwachen!“ schrien die Drillinge im Einklang und liefen lachend davon. Schlaftrunken torkelte ich ins Badezimmer, spülte mir Wasser ins Gesicht und sah in den Spiegel. Die gleichen grün-blauen Augen, die gleichen hellbraunen Haare, die gleiche runzlige Nase. Ich hasste mein Spiegelbild. Danach tapste ich wieder in mein Zimmer, kramte meine Sachen zusammen und zog mich um. Unten angekommen herrschte wie jeden Morgen reines Chaos. Nachdem nun alle bereit waren, machten wir uns mit Schuluniform auf den Weg zur Schule. Die teure, hochangesehene Privatschule an der mich jeder hasste, war nur knapp einen Kilometer entfernt und wir konnten schon von weitem das große prachtvolle Gebäude erkennen. Im Gebäude trennten sich die Wege meiner Stiefgeschwister und mir. Im Flur begegnete ich meinem Englischlehrer. „Lily, gut dich anzutreffen. Mir fehlt immer noch dein Aufsatz, der sollte schon seit einer Woche fertig sein.“ Ich nickte nur. „Ich bin dran.“ „Er muss bis Freitag fertig sein, ansonsten sehe ich mich gezwungen, dich durchfallen zu lassen“, mit diesen Worten verschwand er wieder. Den restlichen Tag ließ ich an mir vorbeiziehen, sodass ich endlich auf dem Weg nach Hause war. Ich hörte drei Frauenstimmen auf der anderen Straßenseite, die mit hoher Stimme ein Lied von sich gaben. Ich blieb stehen und lauschte dem Gesang, dem Text zu folgen schien es ein Kirchenlied zu sein. Der Text löste einen Funken in mir aus, etwas das ich nicht beschreiben konnte, doch ich fühlte mich plötzlich sicher. Vor ihnen auf dem Boden lag ein Beutel und ein Schild mit der Aufschrift: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Guten. Ein paar Mal wiederholte ich den Satz in meinem Kopf. Als ich zu Hause ankam, war alles, woran ich denken konnte, dieser Spruch. Bisher hatte ich kaum etwas mit Religion und Kirche zu tun gehabt. Meine Mutter hatte mir früher Kirchenlieder zum Einschlafen vorgesungen und ist mit mir ein paar Mal in die Kirche gegangen. Aber jetzt war ich kaum noch in der Kirche und vielleicht war dies ein Zeichen, es zu ändern. Gegen Abend schlich in mich hinaus in die Nacht auf dem Weg zur Kirche. Diese war hell beleuchtet und ein paar Leute liefen hinein. Ich folgte ihnen und setzte mich in eine hintere Ecke. Dann lauschte ich dem Pastor, der vorne am Altar eine Predigt hielt und Geschichten aus der Bibel vorlas. Danach ertönte das Orgelspiel, entspannt lehnte ich mich zurück und schloss die Augen und mir huschte ein Lächeln über die Lippen. Seit langer Zeit fühlte ich mich nicht mehr so einsam und ausgeschlossen, denn hier war ich Teil einer Gemeinschaft. Am Ende stand jeder auf und sprach das Vater Unser, ich sah mich um. Jeder sprach mit, ich ebenfalls. Als jeder die Kirche verließ, lief ich nach vorn und blickte auf das Kreuz und Jesus hoch. Dann faltete ich die Hände zusammen, schloss die Augen und begann, all meine Sorgen zu erzählen. Eine ganze Weile stand ich dort und hatte das Gefühl, er hörte mir aufmerksam zu. Als ich sie öffnete, sah ich wie die Kerze von einem leichten Windstoß erlosch, doch ringsherum war weder ein Fenster noch eine Tür geöffnet. Es war ein Zeichen. Und plötzlich fand ich mich wieder in dem dunklen Loch wieder, doch dieses Mal spürte ich eine Hand, die mich mit allen Kräften daraus zog.